Streck dich! Noch bis vor wenigen Jahren galten Faszien als „Verpackungsmaterial“ von Nerven, Knochen und Muskeln. Dabei ist das Bindegewebe für zahlreiche Aufgaben im Körper zuständig. Es regelmäßig zu trainieren lohnt sich.

Stuttgart - Jeden Morgen holt Elif Afsar (Name geändert) ihre Faszienrolle aus dem Kleiderschrank. Noch vor dem Frühstück bearbeitet sie die Arme, die Beine und den Rücken mit der schwarzen Rolle. „Nach 20 Minuten bin ich mit den Übungen fertig“, sagt die 29-jährige Marketingassistentin. In ihrem Münchner Büro sitzt sie den ganzen Tag am Schreibtisch. Die Massagerolle, sagt sie, nutze sie, um Verspannungen zu lösen. Unsportlich ist Afsar nicht: Zweimal pro Woche geht sie ins Basketballtraining, am Wochenende oft auch zu Turnieren. Das viele Sitzen macht ihr dennoch zu schaffen: „Die täglichen Faszienübungen helfen.“

 

Ein gezieltes Training der Faszien wäre vor 20 Jahren wohl nur den wenigsten Büroarbeitern eingefallen. Selbst bei Medizinern stieß das Thema noch vor wenigen Jahren kaum auf Interesse. Da Faszien als weiß-silbrig glänzende Schicht Muskeln, Sehnen, Nerven, Organe und andere Teile im Innern des Körpers umhüllen, wurden sie als „Füll-“ oder „Verpackungsmaterial“ von geringer Bedeutung angesehen.

Inzwischen ist klar, dass sich dieses Hüllorgan selbst an- und entspannen kann. Und dass es ein Netzwerk im Körper bildet, das aus Fasern mit unterschiedlichen Aufgaben, Formen und Fähigkeiten besteht. So können Faszien beispielsweise Muskelflächen bedecken oder als Bänder Gelenke stabilisieren.

An schmerzhaften Verspannungen sind oft Faszien beteiligt

Faszien sind mithin unmittelbar an Bewegungen beteiligt – und das kann auch zu Problemen führen, etwa wenn sie verkleben oder unelastisch werden. Zudem sind sie von Schmerzrezeptoren durchsetzt, was bei Leistungssportlern, aber auch im Alltag problematisch werden kann. So sind an schmerzhaften Verspannungen im Nacken, im Schulterbereich oder in der Lendenwirbelgegend oft genug Faszien beteiligt. Für Rückenprobleme sind verklebte Faszien der häufigste Grund – der Auslöser kann dabei auch Stress sein.

Die Faszien zu trainieren kann also in mehrfacher Hinsicht sinnvoll sein: Das Training kann Schmerzen und Verspannungen reduzieren, den Körper elastischer machen, möglichen Verletzungen vorbeugen – und dazu beitragen, dass Sportverletzungen weniger schwer sind. Kaum ein Leistungssportler kommt heute noch ohne Faszientraining aus. Bei einigen Sportarten, etwa beim Gewichtheben, kommen mehr als 80 Prozent der Kraft aus dem Bindegewebe.

Kay Bartrow arbeitet seit 20 Jahren als Physiotherapeut. Mit dem Thema Faszien, sagt er, komme man im Therapiebereich zwangsläufig in Berührung. „Faszien sind mehr als nur Füllmaterial“, sagt Bartrow. „Das Bindegewebe umhüllt mehr als 600 Skelettmuskeln, mehr als 200 Knochen und mehr als 760 000 Kilometer Nervenfasern.“ Eine Strecke, die einmal von der Erde zum Mond und wieder zurück reicht. „Um jede einzelne Nervenfaser legt sich eine Faszienhülle“, sagt der Physiotherapeut. „Sie sorgt dafür, dass jede Struktur an Ort und Stelle bleibt im Körper – und auch dafür, dass sie verschiebbar und beweglich bleibt.“

Schon zweimal zehn Minuten pro Woche helfen

Damit das so bleibt, empfiehlt Bartrow, sich viel zu bewegen. Mit täglichen Dehnübungen, sagt er, könne man das Verkleben der Faszien in einem frühen Stadium vermeiden. Das Praktische: Das Bindegewebe wird bei jeder Art von Training automatisch mittrainiert. „Man kann sich nicht bewegen, ohne auch die Faszien zu trainieren“, sagt Bartrow. Auf bestimmte Bewegungsreize spricht das Fasziensystem allerdings besser an als auf andere.

Mit einer Faszienrolle, wie sie Elif Afsar nutzt, können einzelne Bindegewebsschichten bewegt werden. Es gibt spezielle Übungen unter anderem für die Knie, den Rücken und die Schulterpartien. „Schon zweimal zehn Minuten pro Woche reichen aus, um das Fasziensystem beweglicher zu machen“, sagt Bartrow. Mit einem Schaumstoff-, Tennis- oder Golfball könne man zudem gezielt auf gereizte Nervenenden einwirken: Indem man den Ball an der schmerzenden Stelle zirkulieren lässt, kann man Verhärtungen lösen.

Eine Faszienrolle kostet im Sportgeschäft zwischen 20 und 60 Euro. Die Hilfsmittel seien eine gute Methode, um sich zu den Übungen zu motivieren, sagt Bartrow. Nötig seien sie im Grunde aber nicht. Er rät dazu, sich täglich drei bis vier Minuten Zeit zu nehmen, um sich ausgiebig zu strecken – „so wie es Katzen tun, bevor sie aufstehen.“ Die Tiere nehmen sich Zeit, um die Wirbelsäule Stück für Stück aufzurollen, sich zu dehnen und zu räkeln. Das sei im Stehen, im Sitzen und im Liegen möglich, sagt Bartrow. Wer am Schreibtisch arbeite, könne einfach ab und zu aufstehen, die Schultern, Ellbogen und Hände nach oben strecken und sich komplett durchdehnen: „Diese angenehme Bewegung machen wir viel zu selten.“

Überbelastung schadet den Faszien genauso wie keine Bewegung

Bei Schmerzen helfen oft schon Handkontakte an der richtigen Stelle, um diese zu lindern. Das schreiben die Physiotherapeuten Kristin Adler und Arndt Fengler in ihrem Buch „Gesunde Faszien“. Manchmal reiche der bloße Kontakt, ein anderes Mal lindere etwa ein leichtes Streichen über die Haut den Schmerz. Bei intensiveren Beschwerden sei vielleicht ein stärkerer Druck nötig; unter Umständen müsse die betroffene Stelle massiert werden: „Ihr körperlicher Instinkt zeigt Ihnen, wo die Berührung nötig ist und auch wie intensiv sie sein muss, um wirklich zu helfen“, so Adler und Arndt.

Auch beim Training lohnt es sich, auf den eigenen körperlichen Instinkt zu achten. Zu schauen, bis zu welchem Punkt das Dehnen guttut, ab wann es zu viel ist. Das ist wichtig: Überbelastung schadet den Faszien genauso wie gar keine Bewegung. Sanfte Sportarten wie Yoga, Tai-Chi oder Pilates sind für das Faszientraining daher besonders geeignet.

Da ein Leben lang alte Faszien abgebaut und neue aufgebaut werden, lässt sich bis ins Alter viel mit den Übungen erreichen. Ein wenig hilft es auch schon, sich morgens beim Aufstehen ausgiebig zu strecken – genauso wie dies eben auch Katzen tun.

Die drei Fasziengruppen

Begriff „Faszien“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Band“ oder „Bündel“. Das Fasziengewebe ist bandförmig und oft nur einen Millimeter dick. Es besteht unter anderem aus Kollagenfasern, Wasser und Klebstoffen.

Oberflächliche Faszien : Sie sind vor allem aus lockerem Binde- und Fettgewebe zusammengesetzt. Oberflächliche Faszien liegen direkt unter der Haut und verbinden alle Organe und Gewebe. Sie speichern Fett und Wasser, dienen als Puffer und ermöglichen die Verschiebbarkeit der Organe.

Tiefe Faszien: Die faserreichen Bindegewebsstränge umschließen Muskeln, Knochen und Gelenke. Innerhalb des Muskels trennen sie die Muskelfasern voneinander, so dass diese nicht aneinander reiben können. Zudem sind sie mit zahlreichen sensorischen Rezeptoren ausgestattet, die auf mechanische und chemische Reize und Temperaturschwankungen reagieren.

Viszerale Faszien: Sie betten die inneren Organe sowie das Hirn mit einer Doppelmembran ein. Zu den viszeralen Faszien gehören die Hirnhaut des Gehirns, der Herzbeutel des Herzens, das Brustfell der Lunge und das Bauchfell.