Zuerst war die Freude groß bei Anja Plesch-Krubner, als sie erfuhr, dass die grün-schwarze Landesregierung die Frage einer möglichen Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in einem Bürgerforum beraten lassen will. „Super, geschafft“, sagte sie im ersten Moment. Schnell wich bei der 55 Jahre alten Mutter aus Heidelberg, die mit einer Mitstreiterin die Initiative „G9 jetzt! BW“ ins Leben gerufen hat, der Sektstimmung die Ernüchterung. Inzwischen vergleicht Anja Plesch-Krubner die Ankündigung der Landesregierung mit einem „Berliner mit Puderzucker, in dem Senf drin ist“.
Mit dem Volksantrag der Initiative zur Rückkehr vom achtjährigen zum neunjährigen Gymnasium sei das geplante Bürgerforum „nicht im Ansatz vergleichbar“, kritisiert Plesch-Krubner. Selbst wenn das Bürgerforum eine Rückkehr zu G9 empfehlen würde, wäre das für die Regierung „nicht bindend“, betont die Initiatorin. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte auch schon klargemacht, man werde sich als verfassungsmäßige Organe durch das Ergebnis in keinem Fall „unter Zugzwang“ setzen lassen. Der frühere Biologielehrer Kretschmann ist persönlich weiter gegen eine Rückkehr zu G9.
Hohe Hürden müssen überwunden werden
Anja Plesch-Krubner betont, man wolle durch den Volksantrag „das Heft des Handelns in der Hand behalten“. Seit November sammelt die Elterninitiative Unterschriften für einen Volksantrag. Die G9-Aktivistin will nicht ausschließen, dass es sich bei dem Vorstoß der Landesregierung um ein „strategisches Ablenkungsmanöver“ handle, mit dem die Leute „auf eine falsche Fährte gelockt werden“. So seien viele Menschen „verunsichert worden, ob sie noch Unterschriften sammeln müssen“, hat Anja Plesch-Krubner festgestellt. Man habe aber noch nicht alle nötigen Unterschriften zusammen, macht sie deutlich, gesichert sei rund die Hälfte des Quorums. Das Verfahren ist aufwendig. Die Unterzeichner müssen die Blätter aufs Rathaus tragen, im Melderegister wird kontrolliert, ob sie wahlberechtigt sind. „Das ist eine hohe Hürde“, sagt Plesch-Krubner.
Für Ralf Scholl, den Landesvorsitzenden des Philologenverbands, der die Gymnasiallehrer im Land vertritt, ist die Aktivität der Regierung ein „Ablenkungsmanöver, mit dem der Schein von Mitwirkung erweckt wird“. Scholl, selbst Lehrer am Stuttgarter Paracelsus-Gymnasium, hält die Rückkehr zu G9 für überfällig. Seit 20 Jahren gebe es G8, und „trotz Nachbesserungen ist es noch immer nicht gut“, kritisiert Scholl.
Viele Fragezeichen nach dem früheren Abschluss
Anders als geplant habe G8 nicht zu einem früheren Eintritt der jungen Leute ins Studium oder den Beruf geführt, diese wüssten nach dem früheren Abschluss oft nicht, was sie tun wollten und gingen eher ein Jahr ins Ausland. Im Bildungsplan seien Themen zeitlich vorgezogen worden, für die die Schüler noch nicht reif seien. Dass die Wiedereinführung von G9 sehr teuer sei, hält Ralf Scholl für „Bauernfängerei“, es werde pro Jahr und Gymnasiast deutlich weniger ausgegeben als pro Gemeinschaftsschüler. Und die 1400 zusätzlichen Lehrer, die man durch G9 brauche, seien erst nach Jahren erforderlich. Zunächst seien tendenziell sogar weniger Lehrer nötig, da die Stundenzahlen der Schüler sänken. Scholl wirft der Landesregierung eine „verzerrte Darstellung“ der Sachlage und „politische Ideologie“ vor.
Matthias Wagner-Uhl, der Vorsitzende des Vereins für Gemeinschaftsschulen im Land, sieht dagegen „keinen Grund“ für eine Debatte zugunsten von G9. Wissenschaftliche Studien zeigten, dass sowohl die Leistungen wie das subjektive Belastungsgefühl von Schülern in G8 und G9 gleich seien. Statt die Debatte auf G8 und G9 zu „verengen“, fordert er, weit mehr in die frühkindliche Bildung und in die Grundschule zu investieren. „Das macht die Kinder zukunftsfähig“, sagt Matthias Wagner-Uhl. Darüber wünscht er sich eine breite Debatte. Das „hyperkomplexe“ Bildungssystem im Land müsse vereinfacht werden. Würde wieder G9 eingeführt, fürchtet der Lehrer, sänken in Gemeinschaftsschulen und Realschulen die Schülerzahlen, die Gymnasien hätten aber keinen Vorteil, ist Wagner-Uhl überzeugt. Er will stattdessen mehr Gemeinschaftsschulen mit Gymnasialzug, derzeit seien es acht von 320.
Anja Plesch-Krubner aber bleibt dabei: „Wir lassen uns nicht von unserem Weg abbringen.“ Die Mutter, deren Tochter Klasse zehn eines Gymnasiums besucht, betont: „Das ist eine gebeutelte Generation.“ G8 und dann Corona: „Die stehen im Dampfkessel Gymnasium extrem unter Druck“, sagt die 55-Jährige. „Da muss was passieren.“
Was ist ein Volksantrag, was ein Bürgerforum?
Volksantrag
Mit der Unterschrift von 0,5 Prozent der Wahlberechtigten (knapp 40 000 Personen) kann das Parlament verpflichtet werden, sich mit einer Vorlage aus der Bürgerschaft zu befassen. Wird diese abgelehnt, wird der Weg frei für ein Bürgerbegehren, bei Erfolg auch für eine Volksabstimmung in der Sache.
Bürgerforum
40 bis 60 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen nach den Sommerferien über die Zukunft der Gymnasien debattieren, solche mit Abitur, aber auch mit anderen Schulabschlüssen. Zunächst werden Experten, Verbände und Betroffene gehört, zuletzt eine Empfehlung abgeben. Entscheiden werden aber das Parlament und die Regierung.