Der Konflikt um die Flüchtlingspolitik spitzt sich zu. Bayerns Ministerpräsident Seehofer will Widerstand gegen Berlin leisten, und auch bei der CDU rebellieren Funktionäre an der Basis.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der Ausdruck „Freistaat“ für das Bundesland Bayern wurde im Zuge einer Revolution erfunden: 1918. Der amtierende Regierungschef im Freistaat, Horst Seehofer, nimmt sich ab und an die Freiheit, gegen den Bund aufzubegehren. Im Streit über die Flüchtlingspolitik hat er dies wiederholt getan. Jetzt mimt er den Revoluzzer. Seehofer droht mit „Notwehr“, falls es der Regierung in Berlin nicht gelinge, den Massenzustrom zu bremsen. Das ist eine Kampfansage von beispielloser Militanz gegen Kanzlerin Angela Merkel.

 

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende hatte seine Drohung bei einem Treffen mit Landräten und Oberbürgermeistern ausgestoßen. Teilnehmer berichten, er habe eine „wirksame Notwehr“ angekündigt. „Sonst sagt Berlin, die Bayern reden immer davon, dass die Belastungsgrenze erreicht ist, aber führen jeden Tag vor, dass sie es trotzdem schaffen“, so wird Seehofer zitiert. Bayern ist durch die Völkerwanderung stärker belastet als alle anderen Bundesländer. An den Grenzen des Freistaats endet die so genannte Balkanroute, über die Asylbewerber aus Syrien und dem Mittleren Osten den Weg nach Europa suchen.

In einem Monat 225 000 Flüchtlinge in Bayern registriert

Laut Seehofer wurden dort allein zwischen dem 1. September und dem 3. Oktober 225 000 Flüchtlinge registriert. Unter Umständen ist der CSU-Chef auch von neuen Umfragezahlen alarmiert. Nach Erhebnungen des Instituts Forsa sackt seine Partei in der Wählergunst um mehr als fünf Prozentpunkte ab. Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner gibt Seehofer selbst die Schuld an dem Einbruch. „Die Attacken des Ministerpräsidenten gegen die Kanzlerin treiben Wähler am rechten Rand der CSU in hohem Maße der AfD zu“, warnt der Demoskop.

Attackiert wird Merkel längst auch aus der eigenen Partei. Aber der Ton wird schärfer – und die Zahl der Unzufriedenen wächst. Jetzt fordern 34 Funktionsträger aus dem Unterbau der CDU die Kanzlerin in einem Schreiben, das der Stuttgarter Zeitung vorliegt, zu einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik auf. Sie kritisieren in dem Brief Merkels Kurs „mit großer Sorge um die Zukunft unseres Landes“. Die Aufnahmekapazitäten Deutschlands seien „bin an die Grenzen gespannt und an machen Orten bereits erschöpft“.

CDU-Basis verlangt klare Botschaften zur Begrenzung

Kritisch wird auch vermerkt, dass die Mehrheit der Flüchtlinge aus Ländern stamme, „deren Gesellschaftsbilder deutlich von unseren westlichen Werten abweichen“. Die Unionisten rügen die „gegenwärtig praktizierte Politik der offenen Grenzen“. Diese entspreche weder dem europäischen und deutschen Recht „noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU“. Viele der Forderungen, welche die Rebellen von der Basis erheben, stehen längst auf Merkels politischer Agenda. Die unzufriedenen Unionisten verlangen vor allem „klare Botschaften zur begrenzten deutschen Aufnahmekapazität an die Herkunftsländer und deren Bevölkerung“.

Zu den Unterzeichnern des Protestschreibens, die vor allem aus Berlin, Hessen und dem Osten kommen, zählen auch zwei Christdemokraten aus Baden-Württemberg. Matthias Pröfrock aus Korb, bis Frühjahr 2016 noch CDU-Landtagsabgeordneter, aber nicht erneut nominiert, verlangt von der Regierung, verfehlten Hoffnungen bei potenziellen Flüchtlingen entgegenzuwirken. „Sie erwarten ein Einfamilienhäuschen im Grünen und finden sich auf einer Pritsche in der Messe Stuttgart wieder“, sagt Pröfrock, der auch Vorsitzender der CDU Region Stuttgart ist.

Die Kanzlerin müsse in den Herkunftsländern klarstellen, „dass nicht politisch verfolgte Flüchtlinge kein Recht haben, nach Deutschland zu kommen, und zügig abgeschoben werden“. Neben Pröfrock hat auch Christoph Koch, Mitglied im CDU-Bezirksvorstand Württemberg-Hohenzollern, den Brief unterschrieben. Dieser sei nicht als Kritik an Merkel zu werten, sagt der Nachwuchspolitiker, sondern als Ausdruck der Sorgen, denen er täglich begegne.

Unterdessen hat die Kanzlerin das Krisenmanagement zur Chefsache erklärt. Die Flüchtlingspolitik soll künftig im Kanzleramt koordiniert werden. Merkel hatte das schon vor Wochen angekündigt. Zuständig sind der Chef des Kanzleramts, Peter Altmaier, und Staatsminister Helge Braun, der die Zusammenarbeit mit den Ländern koordiniert. Die „operative Koordination“ der Flüchtlingspolitik soll weiterhin bei Innenminister Thomas de Maizière (CDU) liegen. Altmaier tritt der Spekulation entgegen, de Maizière werde auf diese Weise entmachtet. Es gehe vielmehr darum, die Schlagkraft und Handlungsfähigkeit der Regierung insgesamt zu verbessern. Ein Regierungssprecher sagt in Merkels Auftrag: Der Innenminister werde „ausdrücklich gestärkt und nicht geschwächt“.