Seit Jahren schon sind die Pläne für ein Einheitsdenkmal in Berlin beschlossene Sache. Und seit Jahren gibt es immer neue Gründe, den Entwurf des Stuttgarter Büros Milla und Partner doch noch zu verhindern. Warum eigentlich?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Seit knapp vier Wochen geistert ein Kulturprojekt namens DAU durch die Feuilleton-Debatten. Irgendwann im Oktober soll mitten im Zentrum der Hauptstadt, also Unter den Linden, ein nicht ganz unbeträchtliches Areal inklusive historischer Gebäude von einer Mauer umschlossen werden. Dahinter sollen Besucher im Rahmen einer inszenierten Wirklichkeit Gefühle wie in einer terroristischen Diktatur entwickeln können. Zum Schluss soll die Mauer wieder fallen.

 

Niemand weiß, was genau bei DAU stattfinden wird. Finanziert wird es von einem russischen Milliardär. Erdacht wird es von einem ukrainischen Filmregisseur, der das Ganze auch schon mal in seiner Heimat veranstaltet hat, wovon es aber keine veröffentlichten Dokumente gibt. Dennoch melden sich fast täglich aus aller Welt Prominente zu Wort, die heftig für DAU werben, von einer „Weltsensation“ sprechen, obwohl sie natürlich sehr zu ihrem Bedauern leider nichts Genaueres dazu sagen könnten. Im Grunde erinnert das ganze Getrommel für DAU seinerseits stark an die Öffentlichkeitsarbeit eines totalitären Systems – nur dass es sich hier als Kunstevent spreizt.

Am Bauplatz hat sich über die Jahre hinweg nichts getan

Eigentlich kann keine für Sicherheit und Ordnung zuständige Behörde aufgrund derart kryptischer Informationen eine Genehmigung für ein solches Projekt erteilen, schon gar nicht die notorisch überforderte Verwaltung von Berlin. Dennoch wird es wohl so kommen. Der für die Angelegenheit zuständige Beamte des Berliner Bezirks Mitte teilte der Öffentlichkeit zwar seine „schärfsten Bedenken“ mit. Aber der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) persönlich wünsche, dass alles so komme. Genau so wird selbst in der Hauptstadt das Unmögliche möglich.

Ein anderes Kulturprojekt, das in der deutschen Hauptstadt an vergangene Schrecken einer Diktatur erinnern soll, vor allem aber an deren Überwindung durch die historisch singuläre Kraft einer friedlichen Bürgerrevolution, genießt offensichtlich nicht derart vehemente Unterstützung durch die verantwortlichen Stellen. Vor beinahe elf Jahren, am 9. November 2007, hat der Deutsche Bundestag beschlossen, an zentraler Stelle der Hauptstadt mit einem „Denkmal für Freiheit und Einheit“ an die historischen Glücksstunden des Herbstes 1999, an den Mauerfall, an die Demokratisierung der DDR aus der Kraft des Volkes und an die Vereinigung am 3. Oktober 1990 dauerhaft zu erinnern. Seitdem ist zumindest für das Auge des Laien am Bauplatz nichts geschehen – sieht man davon ab, dass in der Zwischenzeit im Hintergrund die barocke Fassade eines preußischen Herrscherschlosses nachgebaut wurde und viel fixer in imposante Höhen gewachsen ist.

Die Fledermäuse flogen von allein davon

Eigentlich hätte in dieser Zeit das Denkmal dreimal errichtet werden können. Es gab infolge des Bundestagsbeschlusses zwei künstlerische Wettbewerbe, die, zugegeben, kompliziert verliefen, aber am 13. April 2011 in einem klaren Juryvotum für den Entwurf des Stuttgarter Büros Milla & Partner, dessen Architekten Sebastian Letz und der Choreografin Sascha Waltz führten: ein kinetisches, also bewegliches Objekt, eine für das Volk zugängliche, 50 Meter breite Schale mit der Aufschrift „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Ende 2013 hatten Milla & Partner den Entwurf zur Baureife entwickelt. Seit Oktober 2015 liegt die behördliche Baugenehmigung vor.

Es ist unmöglich, auf auch nur halbwegs vertretbarem Berichtsplatz alles aufzuzählen und alles nachzuerzählen, was bis zum heutigen Tag verhindert hat, dass ein Beschluss des höchsten deutschen Parlamentes und das Ergebnis eines ordentlichen internationalen künstlerischen Wettbewerbes in die Wirklichkeit umgesetzt wurden. Man müsste von Beamten der Kulturverwaltung des Bundes berichten, denen der Entwurf persönlich nicht gefällt, und von einer neuen Chefin dieser Beamten, die sich an Beschlüsse vor Beginn ihrer Amtszeit nur mäßig gebunden fühlt. Man müsste von Fledermäusen erzählen, die unter dem Bauplatz entdeckt werden, für die eine neue Heimat anderswo einzurichten ist und die, als diese Heimat endlich bereitsteht, in der Zwischenzeit längst selbst das Weite gesucht haben.

Die neueste Idee: Die „Wippe“ soll vor den Reichstag

Man müsste viele Geschichten von Mitarbeitern Berliner Bau- und Denkmalschutzbehörden erzählen, die häufig verreist oder krank und „in Auszeit“ sind und für die es wochen- und monatelang keine Vertretungen gibt. Man müsste vom Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Bundestages erzählen, einem Hamburger SPD-Abgeordneten, der sich an Voten des Plenums nicht recht gebunden fühlt und vieles tut, um nur noch formale Beschlüsse zur Freigabe von Finanzmitteln für den Baustart immer wieder zu verschieben.

Man müsste von einflussreichen Westberliner Kreisen berichten, deren Lebenstraum eines wieder errichteten Berliner Preußen-Stadtschlosses zumindest nach außen hin gerade in Erfüllung geht. Sie wünschen vor ihrer Prachtfassade kein modernes, bewegliches Denkmal, wo womöglich den ganzen Tag Betrieb ist. Und man müsste von einem Verein namens Historische Mitte berichten, der überhaupt den ganzen Bezirk Mitte nach alten preußischen Stadt- und Bauplänen rekonstruieren möchte und dessen Vorsitzende Annette Ahme findet, die „Wippe“ passe doch viel besser auf die große Wiese vor dem Reichstag; schließlich sei just hier die deutsche Einheit beschlossen worden.

Oder haben wir die Einheit allein Helmut Kohl zu verdanken?

All dies tut natürlich so, als ginge es immer nur um sachliche Details und Probleme. Aber spätestens mit Annette Ahme ist man an dem Punkt, wo Geschichtsbetrachtung zur Geschichts-Neudeutung wird. Der Ort für das Freiheits- und Einheitsdenkmal wurde deswegen gewählt (und ist auch Teil eines Bundestagsbeschlusses), weil hier – und nicht vor dem Reichstag in Westberlin – der größte DDR-Demonstrationszug am 4. November 1989 vorbeizog, weil hier – und nicht im Reichstag und auch nicht im Bonner Bundestag – am 23. August 1990 die frei gewählte DDR-Volkskammer den „Beitritt zum Gebiet des Grundgesetzes“ beschlossen hat und weil hier gegenüber, im Kronprinzenpalais, eine Woche später der „Einigungsvertrag“ unterzeichnet wurde.

Am Jahrestag des Volkskammer-Beschlusses versammelten sich darum im Sommer 2018 die frühere Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl, der Ex-Ministerpräsident Lothar de Maizière und die früheren Bürgerrechtler Günther Nooke und Wolfgang Thierse, um einen baldigen Baubeginn des Freiheits- und Einheitsdenkmals zu fordern. Das war ein eindrucksvoller Appell – vorgetragen von Persönlichkeiten, die inzwischen fast alle keine bundespolitisch aktive Rolle mehr spielen, alle nur noch Zeugen der Zeitgeschichte sind. Ihre Namen sind vielen Bürgern gar nicht mehr geläufig.

Geläufig ist dagegen überall die Geschichtserzählung, es sei Helmut Kohl gewesen, der die deutsche Einheit geschaffen habe. Von Oggersheim aus. Tief im Westen.