Der Nachlass des Kafka-Freundes Max Brod soll in Israel bleiben, hat ein Gericht in Tel Aviv entschieden. An dem Prager Dichter wird ein Exempel nationalen Prestiges statuiert, und das Marbacher Literaturarchiv zieht den Kürzeren – zumindest zunächst.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Tel Aviv - Die Exegese des Urteils ist kompliziert. Eigentlich nicht verwunderlich, schließlich geht es um Kafka. Und wie sich die Herrschaft des Rechts zur Grauzone zwischen den materiellen und immateriellen Obliegenheiten des Menschen verhält, weiß der am besten, der schon einmal das Glück hatte, das Originalmanuskript von Kafkas „Prozess“ im Deutschen Literaturarchiv in Marbach in den Händen zu halten.

 

Nun geht es freilich nicht um ein Urteil, das in einer jener obskuren Räumlichkeiten gesprochen wurde, in der die Leute „nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen“, wie im Roman. Es geht vielmehr um den vorläufigen Abschluss eines jahrelangen Verfahrens vor dem Familiengericht in Ramat Gan bei Tel Aviv, das nun in erster Instanz entschieden hat, dass der Nachlass des Kafka-Freundes Max Brod in den Bestand der Hebräischen Nationalbibliothek übergehen soll. 40 000 Seiten, davon das meiste aus der Feder Brods, der zu Lebzeiten eine weitaus größere Wertschätzung genoss, als jener, dessen Mentor er wurde und dessen Werk er gleich zweimal vor dem Untergang bewahrt hat: erst vor dem eigenen Vernichtungswunsch, dann vor dem der nationalsozialistischen Bücherverbrenner.

Von Kafka befinden sich Briefe, Manuskripte und sonstige Papiere in Brods Nachlass. Nichts was dazu zwänge, die Geschichte dieses Autors noch einmal neu zu schreiben. Die meisten dieser Materialien sind der Forschung bereits bekannt, inventarisiert und kopiert. Trotzdem stünden sie einem Archiv gut an, dessen Forschungsschwerpunkt gleichsam auf den Schultern dieses Titanen der Moderne ruht.

Das „Prozess“-Manuskript wurde nach Marbach verkauft

Aus eben diesem Nachlass wurde bereits 1988 von den Erbinnen der Brod’schen Hinterlassenschaften für damals 3,5 Millionen Mark das „Prozess“-Manuskript nach Marbach verkauft. Selbstverständlich hat man dort ein gesteigertes Interesse, weitere Teile dieses in israelischen und Schweizer Tresoren lagernden Besitzes zu erwerben. Deshalb prüfen die Juristen des Hauses die Entscheidung in Israel akribisch. Und da die Dinge, wie bei Kafka nicht anders zu erwarten, nun einmal verwickelt sind, sieht man dort bisher von einer Stellungnahme ab – und schweigt wie die Sirenen in der gleichnamigen Erzählung des Prager Autors.

Doch andernorts rumort es gewaltig. „Kafka – der letze Prozess“ ist der Titel eines heute Abend bei Arte ausgestrahlten Films, in dem der Regisseur Sagi Bornstein in einer Mischung aus Dan Brown mit Doku-Elementen die Geschichte des Kafka-Nachlasses zu einem Paradefall stilisiert, an dem sich der Kampf um das kulturelle Erbe Israels zu erweisen habe. Eva Hoffe, die zusammen mit ihrer in diesem Jahr verstorbenen Schwester Erbin des Nachlasses von Max Brod ist – für den ihre Mutter Ilse Esther Hoffe einst als Sekretärin gearbeitet hatte –, erscheint darin in denkbar unvorteilhaftem Licht. Mit allen suggestiven Tricks strickt der Film aus scheinbar objektiven Fakten eine Agitationserzählung, die Kafka als israelischen Nationalautor inthronisiert, den es um jeden Preis vor deutschen Begehrlichkeiten zu schützen gelte, zumal sein Werk schon einmal dank Brod zu Holocaust-Zeiten den Deutschen entronnen ist.

Kafkas Werk: jüdisch und zugleich „urdeutsch“

In Israel trifft das 2011 auf dem internationalen Dokumentarfilmfestival von Tel Aviv gezeigte Elaborat einen Nerv, der in den letzten Jahren immer empfindlicher auf alles reagiert, was geeignet ist, den Alleinvertretungsanspruch der jüdischen Identität durch den Staat Israel in Frage zu stellen. Und wieder einmal war es die amerikanisch-jüdische Philosophin Judith Butler, die diesem kulturzionistischen Syndrom auf den Zahn fühlte, indem sie ebenfalls 2011 in ihrem Aufsatz „Who owns Kafka?“ auf den identitätsprägenden Grundwiderspruch dieses Dichters hinwies: ein „urdeutsches“ Werk hinterlassen zu haben, das gleichzeitig zu den „jüdischsten Dokumenten“ seiner Zeit gehört. Kafka, so Butler, eignet sich nicht als zionistische Galionsfigur, woraus freilich noch nicht notwendig hervorgeht, dass sein Werk unbedingt einem deutschen Archiv zugeschlagen werden müsse.

Um die Frage zu klären, wie es denn nun wirklich um Kafkas angebliche Absicht, nach Israel auszuwandern, bestellt war, wie sie aus dem Land nun reklamiert wird, könnte ein so erfahrenes und prestigereiches Archiv wie das Marbacher sicher gute Arbeit leisten. Auch wenn der Großteil von Kafkas schriftlichem Nachlass von Brod an die Nichten des Autors übergeben worden war, die ihn ihrerseits der Bodleian Library in Oxford überließen.

Vor der Textarbeit im Archiv steht die Urteilsexegese. Eva Hoffe, die gerne mit Marbach kooperiert hätte, muss sich noch gedulden. Sie plant in Revision zu gehen. Das nächste Kapitel dieses Prozesses entscheidet sich vor dem Bezirksgericht von Tel Aviv. Laut Brods Testament sollten nach dem Tod seiner begünstigten Sekretärin deren Erben, also Eva Hoffe, veranlassen, dass „die Manuskripte, Briefe, und sonstige Urkunden der Bibliothek der Hebräischen Universität in Jerusalem oder der Staatlichen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden“. Handelt es sich dabei nun um gleichberechtigte Optionen oder um eine eindeutige Rangfolge? Das Gericht hat sich für letzteres entschieden. Der Kafka-Forscher Hans-Gerd Koch interpretiert das Urteil als eine klare Enteignung der rechtmäßigen Erben.

Zwar sind Philologen von Haus aus keine Rechtsexperten, doch haben Kafka-Kenner einen feinen Sinn für die Anfechtungen durch eine den Menschen überwältigende Ordnung.