Streit um Karenztag Klassenkampf um den Krankenschein

Wer krank ist, sollte sich auskurieren – doch sind immer alle krank gemeldete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitsunfähig? Foto: picture alliance/dpa//Christin Klose

Die Debatte um den Karenztag – den unbezahlten ersten Krankheitstag – kocht in der Wirtschaftskrise besonders hoch. Mehr Ehrlichkeit und weniger Pauschalurteile wären vonnöten, meint unser Autor.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Wer sich in dieser Republik so richtig unbeliebt machen will, der stellt angestammte Arbeitnehmerrechte in Frage. Auch Allianz-Chef Bäte, dessen Namen vorher kaum jemand gekannt hat, hat mit seiner Forderung, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen, eine Welle der Entrüstung losgetreten. „Klassenkampf von oben“ schallt es ihm entgegen – eine „Kultur des Misstrauens“ in den Betrieben werde geschürt. So reflexhaft laufen viele Debatten hierzulande, was zielführende Auseinandersetzungen massiv erschwert.

 

Nun lässt sich gegen die Wiedereinführung eines Karenztages eine Menge vorbringen: Dass sich Arbeitnehmer massenhaft krank zur Arbeit „schleppen“, wie es gerade so oft heißt, wäre um ihrer selbst willen und wegen der Ansteckungsgefahr allzu fahrlässig. Aus Angst um den Job ist dies heute schon Praxis. Mit „Präsentismus“, so der Kampfbegriff der Gewerkschaften, könnte man die Menschen erst recht in die vollen Wartezimmer der Ärzte treiben, die dann gerne mal länger krankschreiben als nötig.

Ganz neue Optionen gerade für jüngere Beschäftigte?

Hinzu kommt: Die damals hart erkämpfte volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist in wichtigen Tarifverträgen seit Jahrzehnten verankert – wollen die Metallarbeitgeber zum Beispiel für deren Abschaffung einen wochenlangen Streik riskieren? Sicher nicht.

Altbekannt ist auch, dass das Pendel bei jungen Menschen – die Rente mit 70 vor dem geistigen Auge – eher gen Lebensqualität als in Richtung Geldverdienen ausschlägt. Konsequent weitergedacht, würden ihnen ganz neue Optionen eröffnet. Dank eines Karenztages könnten sie sich mehr oder weniger legitimiert weitere (unbezahlte) freie Tage genehmigen, während heute beim Blaumachen noch Sanktionen drohen. Das wäre absurd.

Ob mit dem Lohnabzug am ersten Krankheitstag volkswirtschaftlich so viel gewonnen wäre, ist mehr als fraglich. In der Statistik der Krankenkassen schlagen vor allem die Langzeiterkrankten negativ zu Buche. Darüber hinaus lenken Karenztag-Befürworter von viel gravierenderen strukturellen Mängeln der Unternehmen ab. Manager sowie Politiker sind sehr geübt darin, Fehler im eigenen Bereich mit symbolhaften Diskussionen zu vernebeln.

Ein ehrlicher Befund deckt Schwächen auf

Trotzdem sollte so viel Ehrlichkeit sein: Fraglos wird das System von einem (kleineren) Teil der Beschäftigten egoistisch ausgenutzt. Per telefonischer Krankmeldung das Wochenende verlängern? Das Homeoffice in die Freizeitgestaltung einbinden? So etwas gibt es wohl auf allen Einkommensstufen. Spezialisten besorgen sich für längere Abwesenheiten unterschiedliche Atteste, um nicht ins Krankengeld zu fallen.

Es überrascht nicht, dass die Wirtschaft gerade jetzt die Zügel anzieht. Die Lage ist dramatisch schlecht, die Perspektiven sind düster. Und nachdem die stattlichen Lohnsteigerungen vor allem in der Industrie viele Jahre mit der hohen Produktivität begründet wurden, haben uns andere Nationen in puncto Arbeitsleistung längst überholt.

Ist das deutsche Arbeitsethos nur noch ein Mythos?

In anderen Industrienationen wird deutlich mehr gearbeitet als im Land der Freizeitmeister. Ist das deutsche Arbeitsethos nur noch Mythos? Hat der allgemeine Wohlstand Fleiß und Disziplin gedämpft? Umfragen sollte man nicht zu hoch hängen, aber eine gerade veröffentlichte Erhebung könnte die Realität treffen: Nur knapp die Hälfte der Beschäftigten geht demnach hoch motiviert arbeiten, womit Deutschland unter dem internationalen Durchschnitt liegt. Um diesen Wert zu verbessern, hilft kein Generalverdacht. Wer der Arbeitnehmerschaft per se mangelnde Leistungsbereitschaft unterstellt, erzeugt eine Blockadehaltung. Wertschätzung und gute Führung etwa könnten das bessere Rezept zum Erhalt der Arbeitskraft und gegen Drückebergerei sein.

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