Streit um Obertürkheimer Bahnhof Die Abwärtsspirale dreht sich weiter

Die Stadt darf den Obertürkheimer Bahnhof nicht kaufen, obwohl sie durch eine hochwertigere Nutzung die Situation im Ortskern verbessern könnte. Nun kommt ein Spielhallenbetreiber zum Zug. In Untertürkheim ist der Abwärtstrend ebenfalls intakt.
Stuttgart - Dürfte der Regisseur Christoph Hofrichter, im Ehrenamt SÖS-Bezirksbeirat in Obertürkheim, auch für die neueste Heimatgeschichte das Drehbuch schreiben, hätte er dafür gesorgt, dass sich in seinem Stadtteil Geschichte wiederholt: 30 Jahre ist es jetzt her, dass er mit dem damaligen Grünen-Kollegen Willi Schraffenberger unter Verwendung von Flugblättern, Dienstaufsichtsbeschwerden (gegen den Bezirksvorsteher) und Strafanzeigen (gegen den Fernsehjournalisten Emil Obermann) erfolgreich ein historisches Gemäuer gerettet hat. Der Widerstand im Ort gegen den Erhalt der Alten Mühle war seinerzeit schier übermächtig, die Mehrheit fürchtete, der Erhalt des Denkmals würde jene segenstiftende Investoren verschrecken, die sich mit den Stadtplanern daran machen wollten, den Ortskern zu verschönern.
Angst vor der Rettung der Alten Mühle
Büro- und Geschäftshäuser sollten drängende Probleme wie „Verkehrsbelastung, verfallender Wohnraum, Abnahme der deutschen Bevölkerung und einer drohenden Gettoisierung unser ausländischer Mitbürger“ lösen helfen, wie damals der Leserbriefschreiber Siegfried Kimmerle betonte. 30 Jahre später hat sich in Obertürkheim nichts zum Besseren gewandelt – allein die sanierte Alte Mühle, darin ein ordentliches italienisches Speiselokal, wirkt als Blickfang. Der Rest: gesichtslose Architektur mit zugigen Ecken, ein Ramschladen, mehrere Kneipen für den schnellen Durst prägen den Ortskern. Nachdem die Stadt den „4er“ aus der Augsburger Straße entfernen ließ, sind dort 90 Prozent der Läden verschwunden. Geblieben sind blinde Schaufensterscheiben.
Kann sich die Abwärtsspirale in Obertürkheim überhaupt noch weiter drehen? Sie kann, der Gemeinderat hat dafür in der jüngsten Sitzung hinter verschlossenen Türen die Voraussetzungen geschaffen, indem sie auf Empfehlung des zuständigen Finanzbürgermeisters Michael Föll (CDU) darauf verzichteten, das Vorkaufsrecht für den seit drei Jahren zum Verkauf stehenden zentral gelegenen Obertürkheimer Bahnhof zu ziehen. Hofrichter und all seine Bezirksbeiratskollegen hatten mit den Verantwortlichen beim Amt für Stadtplanung die Hoffnung, endlich einen Hebel zu erhalten, um in Obertürkheim etwas zum Positiven zu verändern. Doch statt einer interessanten öffentlichen Nutzung können nun der langjährige Besitzer und der Erwerber, ein griechischer Spielhallenbetreiber, den Handel im Umfang von wohl 2,2 Millionen Euro perfekt machen. Im besten Falle bleibt die Zahl der Geldspielautomaten in diesem einst repräsentativen Gebäude konstant, das gleich mehrere Imbissbuden beherbergt sowie eine Versicherungsagentur und etwa 20 kleine Appartements.
Vorkaufsrecht darf nicht wahrgenommen werden
SÖS-Linke-Plus plädierten im Gemeinderat für einen Erwerb, doch die Abstimmung sei verhindert worden, weil sie auf ein rechtswidriges Ziel gerichtet gewesen sei, betonte Föll. Ein Gutachter erklärte, ein Vorkaufsrecht sei aufgrund einer Erhaltungssatzung für das Grundstück zwar grundsätzlich möglich, Im vorliegenden Fall fehle aber eine wichtige Voraussetzung – der Erwerb diente nicht dem Allgemeinwohl. Wer das verstehen will, muss wissen, dass der Zweck von Erhaltungssatzungen „in der dauerhaften Bewahrung des vorhandenen Zustandes besteht“. Das gilt also auch dann, wenn für alle Sehenden der Zustand alles andere als erhaltenwert ist. Eine Beeinträchtigung durch den Erwerber schätzt die Stadt folglich auch als gering ein – schlimmer kann es nicht mehr werden. Einem Spielhallenbetreiber zudem zu unterstellen, er würde sich grundsätzlich nicht an Regeln halten, wäre aus Gutachtersicht unzulässig, zumal ihm auch der aktuelle Mietermix eine ordentliche Rendite garantiert. Der Investor ist zudem clever, er erklärt sich bereit, schriftlich zu erklären, weder weitere Kneipen noch eine Spielhalle einzurichten. Diese Bestätigung müsse vor dem Ablauf der Gültigkeitsfrist fürs Vorkaufsrecht am 8. Juni erfolgen, warnt Föll, sonst kaufe er den Bahnhof doch noch.
Wie weit eine Ortsmitte herunterkommen muss, bis die – ihren Fokus maßgeblich auf die City richtende – Rathausspitze zum Schluss kommt, rettende Gegenmaßnahmen in die Wege leiten zu müssen, sieht man am Beispiel von Untertürkheim, wo einer der schönsten Vorortbahnhöfe neben einer Dönerbude auch eine abgedunkelte Spielhalle beherbergt und von Einheimischen als „Schandfleck“ beschrieben wird.
In Untertürkheim herrscht Tristesse
Im Umfeld stehen viele Läden leer. Die Stadt, aber auch die örtlichen Einzelhändler haben es nach Aussage des ehemaligen Bezirksvorstehers Klaus Eggert versäumt, den Bahnhof zu erwerben und ansprechend zu nutzen, als sie dazu in der Lage gewesen wären. Der Storchenmarkt, das Ergebnis einer Ortskernsanierung à la Obertürkheim, ist ein architektonischer Albtraum, vor dem zuletzt sogar die Redaktion der Untertürkheimer Zeitung geflüchtet ist. Wie in Obertürkheim garantiert auch im Storchenmarkt der von einer Caritas-Tochter geführte Cap-Markt die Nahversorgung. Beide Läden, in denen Menschen mit Behinderungen arbeiten, sind in ihrer Existenz gefährdet, sofern die Stadt die Ansiedlung eines Aldi in der Nachbarschaft erlauben würde, der dafür das Postgebäude erworben hat. Noch besteht die Chance, den Ortskern wiederzubeleben, die Stadt will mit den Bürgern dafür einen Plan entwickeln. Beteiligung ist aber nicht alles – beim Rosensteinviertel zeigt sich, dass alles viel einfacher ist, wenn die Stadt die nötigen Grundstücke besitzt.
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