Rechtsextreme Rabaukin, das war einmal: Marine Le Pen gibt sich im französischen Rentenkonflikt diskret und staatstragend und legt damit ordentlich in den Umfragen zu.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Quizfrage: Welche Partei profitiert in Frankreich am meisten von der Debatte um die Rentenreform, die Frankreich seit Wochen in Atem hält und alle anderen Themen – sogar den Krieg in der Ukraine – verdrängt? Nein, nicht die in den Demos auftrumpfende Linksunion Nupès, und auch nicht die Macron-Bewegung Renaissance, die das Ordnungsprinzip hochhält. „Die große Gewinnerin der Debatte“, wie das Wochenmagazin Marianne festhält, ist das Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen. Für 35 Prozent der Franzosen schlägt sie sich in dem knallharten Konflikt laut einer Umfrage am besten. Die Linksfront kommt nur auf 27, das Macron-Lager auf 26 Prozent.

 

Das Resultat mag erstaunen. Le Pen hält sich aus den Redeschlachten in der Nationalversammlung bewusst heraus; statt wie üblich zu schimpfen und zu polemisieren, bemüht sie feierlich die Prozeduren der Fünften Republik: Einmal reicht sie einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Präsident Emmanuel Macron ein, dann wieder spricht sie sich für eine Volksabstimmung zum Rentenalter aus.

An den Renten-Demos nimmt Le Pen nicht teil, obwohl sie das Rentenalter 64 genauso wie die Linke ablehnt. Republikanisch und seriös, eifert sie der italienischen Gesinnungsschwester Giorgia Meloni nach; und ganz anders als die hemdsärmelige und sehr laute Linke ist sie im Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, auf die französische Etikette bedacht: Die Damen ihrer Parlamentsfraktion kleiden sich auf ihr Geheiß elegant, die Herren s’il vous plaît mit Krawatte.

Le Pen hält sich zurück und profitiert davon

Die neuen Manieren der sonst so rüpelhaften „Faschos“ wirken zugegeben etwas aufgesetzt. „Feige und unmoralisch“ seien die Lepenisten, ärgert sich das Pariser Linksblatt Libération, das aber im gleichen Atemzug zugeben muss: „Diese Haltung könnte sich an den Wahlurnen auszahlen.“

Und zwar noch stärker als bisher. Bei den Präsidentschaftswahlen von April 2022 hatte Le Pen zwar zum dritten Mal in Folge den Einzug in den Elysée-Palast verpasst; in den folgenden Parlamentswahlen im Juni sahnte ihre Partei RN hingegen kräftig ab, vervielfachte sie doch ihre Sitzzahl in der Nationalversammlung von acht auf 89.

Die aktuelle Rentendebatte verstärkt diesen Trend noch. Macron und seine Reform stoßen auf Ablehnung, Linkenchef Jean-Luc Mélenchon gilt auch nicht als Alternative. Anders Le Pen. Viele ihrer Wählerinnen und Wähler sind besonders erbost über die Reform. Häufig als Arbeiter, Handwerker und Gewerbetreibende tätig, sind sie oft sehr früh – manchmal vor der Volljährigkeit – und ohne Ausbildung ins Berufsleben eingestiegen; deshalb haben sie nun das Gefühl, durch die Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre besonders benachteiligt zu sein. Und tendieren noch stärker als bisher zu Le Pen.

„Die Rentendebatte kann die Dynamik des RN nur stärken“, schätzt der Politologe Bruno Palier. Ihm zufolge hat heute auch die Mittelschicht keine Hemmungen mehr, für die Rechtspopulistin einzulegen. Macron habe dagegen den Kredit der Bevölkerungsmehrheit verspielt. Seine Popularität seit Beginn in der Rentendebatte auf unter 30 Prozent gesunken.

Edouard Philippe am Beliebtesten

Le Pen ist hingegen in den letzten Wochen zur zweitpopulärsten Politikerin aufgestiegen. Nummer eins ist Macrons ehemaliger Premier Edouard Philippe, dem für 2027 Präsidentschaftsaspirationen nachgesagt werden, da Macron von verfassungswegen kein drittes Mal kandidieren kann. Gut möglich, dass das Präsidentschaftsrennen in vier Jahren auf ein Duell Philippe-Le Pen hinausläuft.

In diesen langen Jahren wird Le Pen versuchen, abtrünnige Wähler der konservativen Republikaner für sich zu gewinnen, wie es Meloni in Italien gelungen ist. Die französischen Républicains – die in den Präsidentschaftswahlen 2022 auf 11,3 Prozent absackten – bieten auch in der Rentendebatte ein klägliches Bild innerer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit. Wenn sie bis 2017 keine schlagkräftige Kandidatur zustande bringen, könnte es Le Pen durchaus schaffen, große Teile der Rechten hinter sich zu scharen. Und das wäre wohl gleichbedeutend mit dem Einzug ins Elysée.