Eigentlich ist sein Verfahren noch offen. Doch nun wendet sich ein gründlicher Richter, der wegen zu wenig erledigten Fällen ermahnt wurde, an das Verfassungsgericht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Fall des gründlichen Freiburger Richters, der sich gegen eine Ermahnung wehrt, weil er zu wenige Fälle erledige, könnte nun auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom vorigen September hat der Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, Thomas Schulte-Kellinghaus, jetzt Verfassungsbeschwerde erhoben. Damit will er feststellen lassen, dass die BGH-Entscheidung ebenso wie die vorausgegangenen Urteile der Richterdienstgerichte nicht mit der per Grundgesetz garantierten Unabhängigkeit der Richter vereinbar seien.

 

Schulte-Kellinghaus war von der früheren OLG-Präsidentin Christine Hügel ermahnt worden, weil er nur knapp zwei Drittel des Pensums seiner Kollegen erledige. An seinem Arbeitseinsatz wird nicht gezweifelt, aber er brauche für seine Fälle zu viel Zeit. Der Richter an der Freiburger OLG-Außenstelle sieht darin den Versuch, ihn zu einer anderen Rechtsanwendung zu zwingen.

Taugt der Durchschnitt als Maßstab?

Vor dem Dienstgericht in Karlsruhe und dem Dienstgerichtshof in Stuttgart hatte er sich dagegen überwiegend erfolglos gewehrt. Vor dem BGH erzielt er einen scheinbaren Teilerfolg: Die Richter hoben das letzte Urteil in einem Punkt auf und verwiesen diesen zurück nach Stuttgart.

Der BGH bestätigte zwar, dass ein Richter im Zuge der Dienstaufsicht zu einer „ordnungsgemäßen, unverzögerten Erledigung der Amtsgeschäfte“ ermahnt werden dürfe. Die Unabhängigkeit sei aber beeinträchtigt, wenn ihm ein Pensum abverlangt werde, dass sich „allgemein, also auch von anderen Richtern, sachgerecht nicht mehr bewältigen lässt“. Durchschnittszahlen könnten dafür „nur ein Anhaltspunkt“ sein. Diese Frage habe die Vorinstanz nicht ausreichend untersucht.

Beschwerde trotz laufenden Verfahrens

Mit dieser Entscheidung ist Schulte-Kellinghaus der Gang zum Verfassungsgericht eigentlich zunächst verbaut. Karlsruhe beschäftigt sich nämlich nicht mit laufenden Verfahren, der Rechtsweg muss bereits ausgeschöpft worden sein. In seiner Beschwerde, die unserer Zeitung vorliegt, versucht der Richter diese Hürde jedoch zu umgehen. Seine Argumentation: Nach den Vorgaben des BGH, an die er gebunden sei, könne der Dienstgerichtshof in Stuttgart gar keine verfassungskonforme Entscheidung treffen. Daher bleibe ihm nur die Verfassungsbeschwerde, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Ob das Verfassungsgericht dem folgt, gilt als eher unwahrscheinlich. Auch wenn es die Beschwerde nicht annimmt, könnte es dies aber begründen. Für die gesamte Justiz ist das Verfahren von „immenser Bedeutung“, wie die Neue Richtervereinigung nach dem BGH-Urteil festgestellt hatte. Dieses hatte die NRV als „verpasste Chance“ kritisiert, die richterliche Unabhängigkeit gegen den Erledigungsdruck zu verteidigen.

Richter an ihre eigene Kritik erinnert

In seiner Begründung moniert Schulte-Kellinghaus auch, der BGH missachte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses habe in einer Entscheidung von 2016 die Bedeutung der Zeit, die Richtern zur Verfügung stehe, für die richterliche Unabhängigkeit betont. Nur wenn diese ausreiche, könnten sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Dabei müsse auch die konkrete Belastung im Einzelfall berücksichtigt werden. „Eine Orientierung an vermeintlich objektiven, durchschnittlichen Bearbeitungszeiten genügt dem nicht.“ Zudem habe Karlsruhe moniert, „dass das gegenwärtige System der Bewertung richterlicher Arbeit nicht unwesentlich nach quantitativen Gesichtspunkten erfolgt und hierdurch zusätzliche Anreize für eine möglichst rasche Verfahrenserledigung unter Inkaufnahme inhaltlicher Defizite schafft“.

Die Anfang 2012 ergangene Ermahnung beschäftigt die Justiz nun bereits im siebten Jahr. Für Schulte-Kellinghaus (63) wird allmählich die Zeit knapp: Er brauche eine Entscheidung vor dem 29. Februar 2020, heißt es in seiner Beschwerde. Dann nämlich geht er in Pension.