Der Streit um das neunjährige Gymnasium ist nur eines der Symptome des kränkelnden Bildungssystems in Baden-Württemberg, sagen Bildungswissenschaftler. Wo die Probleme des Bildungswesens wirklich liegen.

Die neu aufgeflammte Debatte über das neunjährige Gymnasium hat erhebliche Nebenwirkungen für das gesamte Bildungssystem. Professoren der Bildungswissenschaft aus Baden-Württemberg warnen eindringlich davor, G9 isoliert zu behandeln, denn es sei nur ein Symptom der Grundkrankheit der Bildungspolitik im Südwesten, meinen Anne Sliwka (Uni Heidelberg), Thorsten Bohl (Tübingen School of Education) und Albrecht Wacker (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg).

 

Problem: Dominierende Einzelinteressen

Das Grundproblem skizziert Thorsten Bohl: „Wir führen eine extrem kleinteilige Diskussion in Baden-Württemberg.“ Interessen einzelner Gruppen dominieren die Debatte. Die Politik schiele zu oft auf den nächsten Wahltermin. Das führe zu vielen auf kurze Zeit angelegten Programmen. „Wir legen Pflaster auf die einzelnen Wunden“, eine wirkliche Besserung bringe aber nur eine langfristige, gemeinsam erarbeitete Strategie.

Am Beispiel der G9-Debatte zeigen die Professorin und die Professoren die Zusammenhänge auf. Offensichtlich ist der Personalbedarf: Mindestens 1500 Lehrerstellen zusätzlich wären bei einem flächendeckenden G9-Angebot an den Gymnasien nötig, sagt Bohl. „Die fehlen uns an anderen Schularten.“

Probleme auf den zweiten Blick

Subtiler sind die Auswirkungen auf potenzielle junge Lehrer. Albrecht Wacker von der PH Ludwigsburg, die Lehrer für Real- und Gemeinschaftsschulen ausbildet, befürchtet: „Wenn G9 kommt, wird die Nachfrage nach dem Lehramt für die Sekundarstufe I weiter nachlassen.“ Der Arbeitsplatz Gymnasium werde attraktiver, der Arbeitsplatz Real- oder Gemeinschaftsschule verliere an Zugkraft. Bohl gibt zu bedenken: „Die Initiative für G9 zieht die Realschule und die Gemeinschaftsschule gar nicht in Betracht. Wenn G9 kommt, bleibt für andere Schularten noch weniger Geld.“

Dabei liegen die bildungspolitischen Probleme Baden-Württembergs nach Einschätzung der Wissenschaftler woanders. Zahlreiche Bildungsvergleiche zeigen, bei vielen Vorschulkindern hapert es mit der Sprachkompetenz. In der Grundschule kommen oft Probleme mit dem Rechnen dazu. Und die Risikogruppe der Schüler, die in der neunten Klasse die Mindeststandards nicht erreichen, bleibt hoch. Nicht zu reden von dem in Baden-Württemberg engen Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Bildungserfolg.

Kompetenzdefizite in Grundschulen beheben

Das Geld und die Stellen wären in der frühkindlichen Bildung und in der Grundschule besser angelegt als in einem neunjährigen Gymnasium, meint Anne Sliwka. Vor allem jene Schularten, die jetzt die Beschulung der ukrainischen Flüchtlingskinder übernehmen, bräuchten aktuell mehr Personal und Mittel, fügt Wacker hinzu. Er befürchtet, dass sich die Debatte über G9 verselbstständigt.

Jetzt müsse schnell gehandelt werden. Es sei aber nicht so, dass das Kultusministerium nichts tue. Sliwka sieht es als sehr positiv an, dass das Land in die datengestützte Schulentwicklung einsteigt und künftig Schulen in schwieriger sozialer Lage über die Ermittlung des Sozialindex mehr Mittel bekommen sollen. „Es passiert an allen Ecken und Enden viel, aber die Veränderungen sind nicht gut aufeinander abgestimmt“, kritisieren die Experten. Es würden Pflaster auf einzelne Wunden gelegt.

Dialog noch in diesem Jahr verlangt

„Eine gemeinsame klare Linie ist nötig“, sagt Sliwka. Diese wollen die Bildungswissenschaftler in einem breiten Strategiedialog erarbeiten. Nach dem Vorbild der Automobilindustrie sollen Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seine Ministerinnen Theresa Schopper (Kultus) und Petra Olschowski (Wissenschaft) alle Beteiligten an einen Tisch holen.

Die Zeit drängt. Noch in diesem Jahr sollte der Dialog beginnen, sagen die Wissenschaftler. Nur so lasse sich die kleinteilige Debatte über Einzelinteressen vermeiden. Im Dialog soll Tacheles geredet werden. „Wir müssen festlegen, welche Ziele wir in zehn Jahren umgesetzt haben wollen“, unterstreicht Sliwka. Thorsten Bohl erwartet auch einen Maßnahmenkatalog gegen den Lehrermangel. Es sei keine Zeit zu vergeuden, mahnt Sliwka: „Wenn wir nicht schnell handeln, geht das zulasten des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg.“

Klare Zielvorstellungen

Die Wissenschaftler haben klare Vorstellungen, wohin die Reise führen müsse: In zehn Jahren sollen alle Kinder die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik erreichen. Schulen sollen passgenau fördern, an allen Grundschulen sollen multiprofessionelle Teams aus Lehrern, Erziehern, Psychologen arbeiten. Die Experten hoffen auf eine größere Flexibilität in der Qualifizierung von Lehrern. Quereinsteiger sollten gut geschult werden. Die sozialindexbasierte Finanzierung sollte für alle Schulen im Land eingeführt werden.

Das kostet viel Geld. Sliwka regt an, Mittel aus dem Sozialetat in den Bildungsetat umzuschichten. „Investitionen in die Bildung der Kinder sind sinnvoller, als später den Erwachsenen Transferleistungen zu bezahlen.“

Gymnasium soll achtjährig sein

Die Wissenschaftler wollen, dass das bestehende Modell der unterschiedlichen Schularten klarer definiert wird – und dabei die Schularten besser kooperieren. Das allgemeinbildende Gymnasium sehen sie als achtjähriges Gymnasium.

Daneben stehe eine integrierte Schulart, die, wie Bohl betont, „hochprofessionell mit Heterogenität umgehen kann“. Dazu zählen die Wissenschaftler die Realschule ebenso wie die Gemeinschaftsschule. Über die zweite Säule könnten Schüler in neun Jahren zum Abitur kommen. Der Weg wäre vorgezeichnet über die Oberstufen an Gemeinschaftsschulen sowie über die beruflichen Gymnasien. Nachbesserungen seien denkbar. „Wir müssen eine realistische Zweigliedrigkeit hinkriegen“, fordert Bohl.

Die Wissenschaftler haben Verständnis für die Eltern, die nach G9 rufen. „G8 ist stofflich nicht durchdacht. In der Oberstufe bedeutet das Bulimielernen und sehr viele Klausuren“, konstatiert Sliwka. Verbesserungen wären in der Gesamtdebatte auch bei G8 nicht ausgeschlossen. Schließlich gibt es auch Defizite bei der Förderung der Spitzengruppen im Land.

Verbesserungen auch bei G8