Region: Verena Mayer (ena)

Tanja sagt, sie habe eine Therapie gemacht, sie habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen, sie habe einen geregelten Alltag, sie habe ihr Leben in den Griff bekommen. Die Sorgen, die sich Ricarda Sauer mache, seien unbegründet. Das zuständige Jugendamt teilt diese Einschätzung. „Das Leben der Kindsmutter läuft stabil. Aus Sicht des Fachdienstes für Pflegekinder gibt es keine rechtliche Grundlage mehr, dass Elena ihren Lebensmittelpunkt weiterhin bei der Großmutter hat“, konstatiert die Behörde im Juni 2014. Seither gehören die Wochenenden mit Elena ihrer Mutter Tanja.

 

Sind nicht auch diese Argumente einleuchtend?

Rückführungen zählen zu den menschlich und fachlich schwierigsten Aufgabenstellungen der Pflegekinderhilfe. Ist die Zeit für den Wechsel wirklich reif? Welche Unterstützung benötigen die Betroffenen? Eine falsche Antwort kann verheerende Folgen haben. Rund 65 000 Kinder in Deutschland leben über kürzere Zeit oder auch mehrere Jahre in Pflegefamilien. Nach den Erkenntnissen des Deutschen Jugendinstituts in München kehren pro Jahr etwa drei Prozent dieser Buben und Mädchen zu ihren Herkunftseltern zurück. Fachleute bewerten die Folgen einer Rückführung auf Kinder sehr unterschiedlich. Nach der Erfahrung Heinz Kindlers, der als Diplompsychologe am Jugendinstitut arbeitet und das „Handbuch Pflegekinderhilfe“ mit herausgegeben hat, kann dieser Prozess allerdings gelingen, wenn in der neuen Umgebung gut auf die Bedingungen des Kindes eingegangen wird. Von Vorteil sei selbstverständlich auch, wenn das Verhältnis zwischen Pflegeltern und leiblichen Eltern halbwegs ungetrübt sei. „Konflikte zwischen den Hauptbezugspersonen untergraben die emotionale Sicherheit des Kindes“, sagt Heinz Kindler.

Ricarda Sauer spielt eine Tonaufnahme vor, sie stammt vom 8. Januar dieses Jahres. Man hört unverständliches Geschrei. Die Geschichte, die sie dazu erzählt, geht so: An jenem Donnerstag wollte Tanja ihre Tochter Elena für ein gemeinsames Wochenende abholen. Doch Elena will nicht mit. Sie versteckt sich erst unter dem Tisch und klammert sich dann an Ricarda Sauer. Zu Weinen hört sie erst auf, als Tanja weg ist. Ricarda Sauer berichtet von vielen ähnlichen Szenen, sie sind in einer Art Tagebuch festgehalten. Elena sagt darin Sätze wie: „Ich will nicht mehr zu Tanja. Da geh ich nie mehr hin.“ Oder: „Mama, bitte halt mich fest! Lass mich nicht alleine!“ Oder: „Du bist meine Mama für immer und ewig.“

Beide Versionen stimmen, urteilt das Gericht

Wenn Tanja von ihren gemeinsamen Tagen mit Elena spricht, klingt das hingegen nach einer guten Zeit. Die Mutter geht mit ihren beiden Kindern spazieren, besucht die Schwiegereltern in der Nachbarschaft, unternimmt Ausflüge, verbringt Zeit zu Hause. Was eine Familie eben so macht. Wenn sie Elena vor einem gemeinsamen Wochenende im Kindergarten abhole, laufe ihre Tochter ihr freudig entgegen, erzählt Tanja. Und als die junge Familie neulich von einer Urlaubsreise zurückgekehrt sei, habe Elena gesagt, sie wolle nicht mehr zu Ricarda Sauer. Da sei es nicht schön.

Aber ist es so einfach?

Der Konflikt zwischen Ricarda Sauer und Tanja beginnt schon lange, bevor Elena auf die Welt kommt. Ricarda Sauer, heute Mitte 40, ist nicht nur die Pflegemutter von Elena, sie ist auch ihre Großmutter. Und Tanja, Anfang 20, ist Ricarda Sauers Tochter. Die zwei Frauen haben mehr schwere Jahre miteinander gehabt als leichte.

Ihr Kampf beginnt vor mehr als zehn Jahren, kurz nachdem sich Ricarda Sauer von ihrem Mann getrennt hat. Tanja ist neun und wird scheinbar aus dem Nichts aggressiv. Sie beschimpft ihre Mutter als „Arschloch“, „Kindsmörderin“ und „Hure“. Aus heiterem Himmel schreit sie: „Ich bringe euch alle um.“ Oder sie droht damit, aus einem Fenster im dritten Stock zu springen. Das Mädchen zerlegt sein Kinderzimmer, knallt mit Türen und würgt seine Schwester im Schlaf. Tanja tritt ihre Mutter. Sie ritzt sich die Arme auf und legt Feuer im Haus.

Zwischen diesen Ausrastern, berichtet Ricarda Sauer, sei Tanja ein umgängliches Kind gewesen. Doch alle paar Wochen sei der Terror von vorne losgegangen.

Schwieriges Mutter-Tochter-Verhältnis

Nach der Jahrtausendwende kommt Tanja vorübergehend auf ein Internat. Danach wohnt sie abwechselnd bei ihrem Vater, bei ihrer Großmutter und wieder bei ihrer Mutter. Schließlich kommt Tanja in ein Heim der Jugendhilfe. Doch eine Besserung stellt sich auch dort nicht ein.

Ricarda Sauer geht mit ihrer Tochter zum Hausarzt und zur Kinderpsychologin. Mutter und Kind machen eine Gesprächs- und eine Familientherapie. Die Experten meinen, dass das Aufbegehren des Kindes mit der Pubertät und den äußeren Umständen zu tun habe: die Trennung der Eltern, eine neue Liebesbeziehung der Mutter. Ein Psychiater diagnostiziert letztlich neben einer posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Persönlichkeitsstörung, die Tanjas aggressive Anfälle erkläre.

Doch all die Erkenntnisse ändern nichts. Das Mutter-Tochter-Verhältnis zwischen Ricarda Sauer und Tanja bleibt schwierig.

Ricarda Sauer hat unter ihrer Tochter gelitten – und mit ihr. Welche Mutter sieht es gern, dass sich ihr Kind quält? Ricarda Sauer sagt heute, sie wünsche sich, dass es Tanja gut gehe und Tanja ihre Tochter Elena selbst großziehen könne. Doch Ricarda Sauer ist überzeugt davon, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. „Wie soll sich jemand mit diesen Diagnosen um ein kleines Kind kümmern?“, fragt die Pflegemutter. Was, wenn Tanja wieder zornig wird und ihre Aggressionen dann an Elena auslässt?

Wenn Elena „Mama“ sagt, meint sie ihre Großmama

Klingen die Bedenken der Mutter, die zugleich Großmutter ist, nicht plausibel?

Es gab eine Zeit, in der es wirklich unmöglich war, dass sich Tanja um Elena kümmerte. Das sieht die junge Frau selbst so. „Die Unterbringung bei meiner Mutter ist damals die bessere Lösung gewesen“, sagt Tanja.

Anfang des Jahrzehnts kommt Elena auf die Welt. Tanja ist seinerzeit in einer Einrichtung des Jugendamtes für minderjährige alleinerziehende Mütter untergekommen. Das Amt hält es für besser, das Baby in eine Pflegefamilie zu geben, weil weder die Kindsmutter noch der Kindsvater Elena ein Zuhause mit einem stabilen Rahmen und verlässlichen Bindungen bieten könnten. Ricarda Sauer schlägt vor, das kleine Mädchen bei sich aufzunehmen. In der Obhut ihrer Groß- und Pflegemutter bekommt das Kind die ersten Zähne, geht die ersten Schritte und lernt die ersten Worte. Wenn Elena „Mama“ sagt, meint sie Ricarda Sauer.

Dann wendet sich das Leben von Elenas leiblicher Mutter Tanja. Sie lernt einen Partner kennen, der ihr Halt gibt. Das Paar besucht Elena nun regelmäßig bei ihrer Pflegemutter und verbringt Zeit mit ihr. Tanja heiratet und bekommt mit ihrem Ehemann ein gemeinsames Kind. Jetzt will sie Elena in ihre Familie holen, sie fühlt sich stark und stabil genug.

Was kann man glauben?

Tanja sagt, sie habe eine Therapie gemacht, sie habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen, sie habe einen geregelten Alltag, sie habe ihr Leben in den Griff bekommen. Die Sorgen, die sich Ricarda Sauer mache, seien unbegründet. Das zuständige Jugendamt teilt diese Einschätzung. „Das Leben der Kindsmutter läuft stabil. Aus Sicht des Fachdienstes für Pflegekinder gibt es keine rechtliche Grundlage mehr, dass Elena ihren Lebensmittelpunkt weiterhin bei der Großmutter hat“, konstatiert die Behörde im Juni 2014. Seither gehören die Wochenenden mit Elena ihrer Mutter Tanja.

Sind nicht auch diese Argumente einleuchtend?

Rückführungen zählen zu den menschlich und fachlich schwierigsten Aufgabenstellungen der Pflegekinderhilfe. Ist die Zeit für den Wechsel wirklich reif? Welche Unterstützung benötigen die Betroffenen? Eine falsche Antwort kann verheerende Folgen haben. Rund 65 000 Kinder in Deutschland leben über kürzere Zeit oder auch mehrere Jahre in Pflegefamilien. Nach den Erkenntnissen des Deutschen Jugendinstituts in München kehren pro Jahr etwa drei Prozent dieser Buben und Mädchen zu ihren Herkunftseltern zurück. Fachleute bewerten die Folgen einer Rückführung auf Kinder sehr unterschiedlich. Nach der Erfahrung Heinz Kindlers, der als Diplompsychologe am Jugendinstitut arbeitet und das „Handbuch Pflegekinderhilfe“ mit herausgegeben hat, kann dieser Prozess allerdings gelingen, wenn in der neuen Umgebung gut auf die Bedingungen des Kindes eingegangen wird. Von Vorteil sei selbstverständlich auch, wenn das Verhältnis zwischen Pflegeltern und leiblichen Eltern halbwegs ungetrübt sei. „Konflikte zwischen den Hauptbezugspersonen untergraben die emotionale Sicherheit des Kindes“, sagt Heinz Kindler.

Ricarda Sauer spielt eine Tonaufnahme vor, sie stammt vom 8. Januar dieses Jahres. Man hört unverständliches Geschrei. Die Geschichte, die sie dazu erzählt, geht so: An jenem Donnerstag wollte Tanja ihre Tochter Elena für ein gemeinsames Wochenende abholen. Doch Elena will nicht mit. Sie versteckt sich erst unter dem Tisch und klammert sich dann an Ricarda Sauer. Zu Weinen hört sie erst auf, als Tanja weg ist. Ricarda Sauer berichtet von vielen ähnlichen Szenen, sie sind in einer Art Tagebuch festgehalten. Elena sagt darin Sätze wie: „Ich will nicht mehr zu Tanja. Da geh ich nie mehr hin.“ Oder: „Mama, bitte halt mich fest! Lass mich nicht alleine!“ Oder: „Du bist meine Mama für immer und ewig.“

Beide Versionen stimmen, urteilt das Gericht

Wenn Tanja von ihren gemeinsamen Tagen mit Elena spricht, klingt das hingegen nach einer guten Zeit. Die Mutter geht mit ihren beiden Kindern spazieren, besucht die Schwiegereltern in der Nachbarschaft, unternimmt Ausflüge, verbringt Zeit zu Hause. Was eine Familie eben so macht. Wenn sie Elena vor einem gemeinsamen Wochenende im Kindergarten abhole, laufe ihre Tochter ihr freudig entgegen, erzählt Tanja. Und als die junge Familie neulich von einer Urlaubsreise zurückgekehrt sei, habe Elena gesagt, sie wolle nicht mehr zu Ricarda Sauer. Da sei es nicht schön.

Was kann man glauben? Was soll man glauben? Was darf man glauben?

Das zuständige Familiengericht glaubt, dass beide Versionen stimmen: dass Elena ihre Pflegemutter liebt und dass es ihr bei der leiblichen Mutter gut geht. Das Gericht glaubt auch, dass das Mädchen in einem massiven Loyalitätskonflikt steckt. „Wenn Kindern die Freiheit fehlt, auch den abgelehnten Elternteil lieben zu dürfen, geraten sie in ein Dilemma, unter dem sie auf jeden Fall leiden. So liegt der Fall hier“, heißt es im Urteil des Gerichts.

Wie wird Elena ein fröhliches Kind?

Ricarda Sauer hatte das Gericht angerufen. Es war ihr letzter Strohhalm. Die Pflegemutter wollte erreichen, dass Elena bei ihr bleiben darf. Mindestens noch sechs Monate, damit Elena besser auf ihr neues Leben vorbereitet werden kann und Tanja ebenfalls. Doch das Gericht lehnte den Antrag ab. Es gebe nicht genügend Anhaltspunkte dafür, dass das Kindeswohl durch die Erziehung der leiblichen Mutter gefährdet sei oder dass der Wechsel dem Kindeswohl zuwiderlaufe.

Anfang dieses Monats ist Elena bei ihrer Mutter Tanja, deren Mann und ihrem Halbgeschwisterchen eingezogen. Die junge Familie bekommt Unterstützung von der Familienhilfe und vom psychologischen Dienst. Elena soll voraussichtlich einmal wöchentlich bei Ricarda Sauer übernachten. Damit aus dem Verhältnis Pflegemutter-Pflegekind ein Verhältnis Großmutter-Enkelkind werden kann – und aus dem verwirrten Kind ein fröhliches Mädchen. Wird das gelingen?

Gibt es ein Richtig? Gibt es ein Falsch?

* Namen der Familienangehörigen geändert.