Im vergangenen Sommer sind fast alle Strohgäubahn-Haltestellen umgebaut worden, weil eine EU-Richtlinie die Barrierefreiheit vorgeschrieben hatte. Die ist aber nur bedingt verwirklicht – ein tückischer Spalt klafft oft zwischen Zug und Bahnsteig.

Strohgäu - Behinderte Menschen, Eltern mit Kinderwagen oder ältere Menschen, die nicht sicher auf den Beinen sind, stehen vielerorts vor einem Problem, wenn sie mit der Strohgäubahn fahren wollen. Zwischen den Bahnsteigen und dem Regio Shuttle klafft ein bis zu 25 Zentimeter breiter Spalt. Wer ihn nicht aus eigener Kraft überwinden kann, ist auf die Hilfe anderer angewiesen – Lokführer oder Mitfahrer müssen dann eine Metall-Rampe auslegen, die vorne im Zug deponiert ist.

 

Es war eine Richtlinie der EU, die dafür gesorgt hatte, dass die meisten Bahnhöfe der Strohgäubahn umgebaut werden mussten. Das erklärte Ziel: Barrierefreiheit. Die Bahnsteige sind jetzt fast alle auf eine einheitliche Höhe von 60 Zentimetern gebracht, die Zugänge ebenerdig. Da die Regio Shuttles jedoch weniger breit als maximal möglich sind, müssen die Passagiere beim Zustieg einen Spalt überwinden.

Die EBO ist schuld

Andreas Fritz, der Sprecher des für den Zweckverband Strohgäubahn zuständigen Landratsamts, verweist auf Vorgaben der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO). Durch die Rampe seien die Haltestellen barrierefrei. In der EBO ist festgelegt, dass behinderte Menschen, alte Menschen und Kinder Bahnhöfe und Züge „ohne besondere Erschwernis“ nutzen können müssen. Eine solche Erschwernis sieht man in der Tatsache, dass die Rampe erst geholt und hingelegt werden muss, offenbar nicht.

Die Bahnstrecke, auf der die Regiobahn fährt, müsse allen potenziellen Nutzern zur Verfügung stehen, die in Deutschland zugelassen sind, ergänzt Fritz. Durch diese Bedingung gebe es den Abstand zwischen Strohgäubahn und Bahnsteig.

Sozialverband unzufrieden

Horst Windeisen, der Geschäftsführer des Betreibers der Strohgäubahn, der Württembergischen Eisenbahngesellschaft (WEG), verweist darauf, dass man den Spalt „so klein wie irgend möglich“ gemacht habe. Mit der mobilen Rampe sind offenbar sowohl die WEG als auch das Landratsamt als Dauerlösung zufrieden. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man da noch nachbessert“, so Windeisen – obwohl er den Unmut ein Stück weit verstehen könne. „Der Einsatz der Rampe ist dauerhaft vorgesehen“, bestätigt Fritz. Die barrierefreie Nutzung der Bahn sei von Behindertenverbänden bestätigt worden.

Für Otto Koblinger, den Vorsitzenden des VdK-Kreisverbands Leonberg, ist der derzeitige Zustand nicht akzeptabel. Dass Behindertenverbände der Planung zugestimmt hätten, verwundere ihn. Koblinger spricht von „mit viel Steuergeld verursachten Missständen“, vom Landrat Rainer Haas fordert er, die Situation zu verbessern: „Auf keinen Fall geben wir uns mit Alu-Klappblechen zufrieden.“

Zweijährige bleiben allein am Bahnsteig zurück

Eine Horrorvorstellung für Eltern ist Ende Juli für zwei Mütter am Bahnhof von Münchingen-Rührberg Realität geworden. Die Frauen mussten zusehen, wie ihre beiden zweienhalbjährigen Töchter allein am Bahnhof zurückblieben, während sie selbst ungewollt in der Strohgäubahn weiterfuhren. Den Vorfall, der erst jetzt bekannt wurde, schildern Juliana Schaible und Andrea Hahn-Keller in einem Brief, der „Strohgäu Extra“ vorliegt.

Demnach wollten die beiden Frauen am 28. Juli um kurz nach zwölf Uhr in Rührberg aus der Bahn aussteigen. Sie hatten neben den beiden Mädchen auch Babys in zwei Kinderwagen dabei. Als die Bahn hielt, halfen Schaible und Hahn-Keller zunächst den älteren Kindern aus dem Zug, da diese den Abstand zum Bahnsteig nicht allein bewältigen konnten. Anschließend hätten sie die Kinderwagen herausholen wollen, schildern die Frauen – was ohne Hilfe wegen des Spalts zwischen dem Zug und dem Bahnsteig „fast nicht machbar“ sei.

Keine Reaktion vom Triebwagenführer

In diesem Moment seien die Türen der Strohgäubahn zugegangen und hätten sich nicht mehr öffnen lassen. Schüler auf dem Bahnsteig, die den Vorfall verfolgt hatten, hätten noch versucht, dem Triebwagenführer zu signalisieren, dass er nicht weiterfahren solle – der jedoch sah die Zeichen der Jugendlichen nicht oder ignorierte sie.

„Als wir feststellten, dass der Zug weiterfahren würde, drückten wir mehrmals den Notrufknopf“, schreiben Schaible und Hahn-Keller weiter. Der Fahrer habe auch darauf nicht reagiert. Die Bahn fuhr weiter, die Kinder blieben allein am Bahnsteig zurück. Die Frauen stiegen in Münchingen aus und stellten den Lokführer zur Rede – dieser habe aber nur mit den Schultern gezuckt. Die Frauen nahmen die nächste Bahn zurück, wo sich eine Jugendliche um die Mädchen gekümmert hatte. Panik hätten die Kinder zum Glück nicht bekommen, sagt Juliane Schaible.

Die WEG geht der Sache nach

Die Frauen lasten den Vorfall auch dem übergroßen Abstand zwischen Bahnsteig und Zug an: Man sei gezwungen, Kinder in Etappen und mit fremder Hilfe aus der Bahn über den Spalt zu geleiten. Horst Windeisen, der Geschäftsführer des Betreibers der Strohgäubahn, der Württembergischen Eisenbahngesellschaft (WEG), versteht die Verärgerung der Frauen. „Wir wollen die Sache natürlich aufklären“, sagt Windeisen. Der betreffende Lokführer sei jedoch gerade im Urlaub. Er selbst wisse erst seit wenigen Tagen von dem Vorfall.