Studie in Winnenden Paulinenpflege arbeitet ein dunkles Kapitel auf

Kinder bei der Ausgabe des Essens im Speisesaal in den 1950er-Jahren Foto: Paulinen/pflege

Die Winnender Einrichtung hat von einem Historiker untersuchen lassen, wie viel Gewalt ihre „Zöglinge“ in früheren Zeiten erlebt haben: Es gab demnach Schläge, Essensentzug und andere Erniedrigungen.

Den ersten Aufruf an frühere Schützlinge hat die Paulinenpflege Winnenden vor zwölf Jahren veröffentlicht. Damals wurden die ersten Fälle von Missbrauch in der katholischen Kirche bekannt. Wie groß und umfassend das Problem ist, war da noch nicht absehbar. Auch bei der Paulinenpflege habe sich zunächst niemand gemeldet, erinnert sich der Hauptgeschäftsführer Andreas Maurer.

 

2018 meldete sich das erste ehemalige Heimkind mit Gewalterfahrung

Dennoch wollte man es nicht bei einem Aufruf belassen. „Die vielfältigen Aufarbeitungsprozesse machten es immer offensichtlicher, dass viele der Vorkommnisse ihre Ursache in der damaligen Zeit hatten“, sagte Maurer bei der Vorstellung einer Studie, die in den 1940er-Jahren ansetzt. „Und wenn dem so war, dann konnte es auch in der Paulinenpflege nicht anders gewesen sein.“ Maurer hatte die Studie beim Institut für Geschichte der Medizin 2018 in Auftrag gegeben. Anlass war gewesen, dass sich das erste ehemalige Heimkind gemeldet hatte, um von Gewalterfahrungen zu berichten.

Laut der Studie haben viele Kinder, die von der Paulinenpflege betreut wurden, Gewalt der unterschiedlichsten Art erfahren. 1800 Akten aus der Zeit zwischen 1945 und 1983 hat der Medizinhistoriker Sebastian Wenger ausgewertet. In 564 Akten von Heimkindern hat er 100 Hinweise auf Gewalt gefunden – Schläge mit dem Teppichklopfer, Essensentzug oder andere Erniedrigungen. Fälle von Missbrauch hat Wenger nicht entdeckt, wohl aber Fälle von sexualisierter Gewalt unter Bewohnern.

Die Interviewten haben die erlebte Gewalt noch nicht verarbeitet

Im Sommer 2020 führte er Gespräche mit einer Handvoll Zeitzeugen, zu denen das Landesarchiv den Kontakt vermittelt hatte. Dort wurde 2006 mit der systematischen Aufarbeitung traumatisierender Erfahrungen von Zwangsunterbringung und in Heimen begonnen. Diese Gespräche seien sehr emotional gewesen, berichtet Wenger: „Bis heute haben die Interviewten die Gewalt, die ihnen begegnete, noch nicht vollständig verarbeitet.“ Das Ergebnis seiner akribischen Spurensuche stellte der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Medizin jetzt bei einem Vortrag vor.

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Im Jahr 1950 hatte der damalige Inspektor Gustav Gruner Gewalt in der Einrichtung dementiert. Der Medizinhistoriker Sebastian Wenger zeichnet nun ein anderes Bild von der Erziehungsanstalt, in der man sich sowohl um gehörlose Kinder und Erwachsene als auch um hörende Kinder kümmerte: Physische Gewalt sei im Untersuchungszeitraum – also noch bis ins Jahr 1983 – eine „gängige Erziehungsmaßnahme“ gewesen, sagt er, und die „körperlichen Züchtigungen“ seien häufig auch völlig unverhältnismäßig ausgefallen.

Besonders schlimm sei dies für die gehörlosen Betroffenen immer dann gewesen, wenn ihnen nicht einmal der Grund für die Strafe vermittelt worden sei, sagte Wenger. Neben Schlägen auf Körper und Kopf gab es viele andere entwürdigende Strafen, wie zum Beispiel Arrest bei Wasser und Brot oder Essenszwang. Vor allem „Bettnässer“ wurden auf erniedrigende Weise bestraft. Nicht selten war demnach etwa, dass man sich in die Ecke stellen musste. Viele der Züchtigungen seien nicht nur aus heutiger Sicht fragwürdig, sondern wären auch damals juristisch nicht erlaubt gewesen, sagt der Medizinhistoriker Wenger. Geahndet wurden die Verstöße allerdings kaum.

Das Jugendbild der Nachkriegszeit war vom Nationalsozialismus geprägt

Hintergrund der Übergriffe ist ein völlig anderes Verständnis von Erziehung zur damaligen Zeit gewesen. Nach dem Krieg habe man auf pädagogische Konzepte aus der Zeit des Nationalsozialismus zurückgegriffen, sagt Wenger. Die Betreuer hätten Kinder und Jugendliche als „triebhaft“ und „roh“, „verwildert“ und „verwahrlost“ bezeichnet. Vor allem junge Frauen hatten unter diesen Moralvorstellungen zu leiden, die auch vom pietistischen Weltbild geprägt waren: In einem Fall versuchte man heutigen Erkenntnissen zufolge gegen den Willen der Mutter, eine junge gehörlose Frau sterilisieren zu lassen. Gewalt führte dazu, dass viele Betreute auch untereinander keinen guten Umgang fanden – und weibliche Betreute das Opfer sexueller Übergriffe wurden. Zwei Suizide und zahlreiche Suizidversuche waren die Folge.

Hauptgeschäftsführer Andreas Maurer hat sich bei dem Vortrag für all diese Erfahrungen und das Leid, was auch heute noch Folgen habe, entschuldigt: Die Paulinenpflege sei einst angetreten, um Menschen mit christlicher Nächstenliebe zu helfen. „Unsere Einrichtung hat also in doppelter Hinsicht versagt“, beim Wohl des Einzelnen als auch beim Gründungsauftrag, schreibt er im Vorwort der auch als Buch veröffentlichten Untersuchung. Mit der Untersuchung wolle man verstehen, was passiert sei, um daraus für die Zukunft zu lernen.

Ein Mahnmal soll die Erinnerung wachhalten

Längst hat die Paulinenpflege ein Leitbild entwickelt, das eine andere Sprache spricht. Inzwischen wird nicht mehr von Betreuten oder gar von Zöglingen gesprochen, sondern von „Klienten“. Mitarbeiter der stationären Bereiche werden in Deeskalation geschult, in den nächsten Monaten kommen sogenannte „Anti-Bias-Trainings“ hinzu: Schulungen also, bei denen die Mitarbeiter ihre eigenen Vorurteile erkennen und reflektieren können. Darüber hinaus will die Paulinenpflege dem, was Sebastian Wenger jetzt ans Tageslicht brachte, auch einen Platz in der Dauerausstellung einräumen, die im kommenden Jahr entstehen soll – wenn sie ihr 200-jähriges Bestehen feiert.

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