Eine neue Zugsteuerungssoftware kann nach Ansicht von Stuttgarter Wissenschaftlern die Verspätungen bei der S-Bahn deutlich verringern. Beim Verband Region Stuttgart ist man hingegen skeptisch.

Stuttgart - Eine neue Zugsteuerungssoftware kann nach Ansicht von Wissenschaftlern der Universität Stuttgart die längst alltäglich gewordenen Verspätungen bei der S-Bahn deutlich verringern. Auf der als Nadelöhr geltenden unterirdischen Stammstrecke zwischen der Schwabstraße und dem mit Stuttgart 21 geplanten zusätzlichen Halt Mittnachtstraße soll sich dank des European-Train-Controll-Systems (ETCS) die Zahl der verspäteten Züge um 73 Prozent reduzieren lassen. Das geht aus einer Studie hervor, die das Verkehrswissenschaftliche Institut für den Bahntechnik-Konzern Thales erstellt hat. Die Untersuchung ist in der vergangenen Woche bei einer Veranstaltung des Verbands Region Stuttgart von Professor Ullrich Martin vorgestellt worden.

 

Bei dem elektronischen Lotsen handelt es sich um ein im europäischen Eisenbahnverkehr als neuen Standard eingeführtes System. Durch die Ausrüstung der Stammstrecke mit einem weiterentwickelten, auf drahtloser Übertragungstechnik basierenden Lotsen könnten die gegenseitigen Behinderungen der Züge stark reduziert werden, heißt es in der Studie. „Statt 500 Meter beträgt der Abstand zwischen den einzelnen S-Bahnen nur noch 100 Meter“, erläutert Martin. Das ETCS-System überwache die Fahrt aller S-Bahnen kontinuierlich und passe Abstand und Geschwindigkeit stets optimal an. „Dadurch wird eine dichtere Zugfolge auf der von allen sechs S-Bahn-Linien befahrenen Stammstrecke möglich“ , sagt der Uniprofessor .

94, 5 Prozent pünktliche Züge in der Simulation

Die von den Verkehrswissenschaftlern erstellte Betriebssimulation im Berufsverkehr hat ergeben, dass der Einsatz dieser Technik die Verspätungen im Berufsverkehr mit 24 Zügen in der Stunde um 73 Prozent reduzieren könnte. „In unserer Simulation waren 94,5 Prozent der S-Bahnen weniger als drei Minuten verspätet“, so Martin. Ohne ETCS seien es nur 80,2 Prozent der Züge gewesen.

Doch das System soll noch mehr können. „Durch den Einsatz von ETCS lässt sich außerdem die Zahl der S-Bahnen auf der Stammstrecke in der Stunde von 24 auf bis zu 32 Züge erhöhen“, so Martin. Das entspreche einem zusätzlichen Angebot von 11 000 Sitz- und Stehplätzen je Stunde und Richtung. Dadurch könnten bei zeitlich begrenzten Großereignissen auch noch mehr S-Bahnen eingesetzt werden.

Der Verkehrswissenschaftler betont ausdrücklich, dass die Ergebnisse der Studie „belastbare Ergebnisse sind, die das noch vorhandene Potenzial der Stammstrecke belegen“. Martin weist zugleich aber auch in aller Deutlichkeit darauf hin, dass der elektronische Lotse kein Alleskönner sei. Er sei „nicht vorrangig dazu geeignet, die derzeit vorhandenen technischen Unzulänglichkeiten bei den unverhältnismäßigen Wartezeiten zu kompensieren“. Es könne lediglich eine Dämpfung erreicht werden. „Schwachpunkte des S-Bahn-Netzes müssen deshalb beseitigt und die zu langen Haltezeiten an den Stationen müssen verkürzt werden“, so Martin.

Region weist auf fehlende Erfahrungen hin

Für den Wissenschaftler ist es höchste Eisenbahn, sich von dem im Zuge von Stuttgart 21 geplanten neuen, aber konventionellen Signalsystem für die S-Bahn zu verabschieden. „Wir müssen die Pferde wechseln, bevor die Planungen für ein herkömmliches Signalsystem zu weit fortgeschritten sind“, fordert Martin. Andernfalls bleibe eine weniger flexible Technik über Jahrzehnte weiter bestehen. Die in der Planungsfeststellung für Stuttgart 21 für die S-Bahn vorgesehene Signaltechnik sei bei Weitem nicht so leistungsfähig wie eine ETCS-Lösung. „Deshalb ist dieses System die einzig realistische Lösung, um das wichtigste Nahverkehrsmittel im Ballungsraum Stuttgart wieder zu stabilisieren“, erklärt Ullrich Martin. Das für den Betrieb notwendige elektronische Stellwerk sei bei Stuttgart 21 ohnehin vorgesehen. Es werde zudem auch bei herkömmlicher Signaltechnik für die _S-Bahn benötigt.

„Die ETCS-Lösung auf der S-Bahn-Stammstrecke kann bis Ende 2021 verwirklicht werden“, glaubt der Wissenschaftler. Das sei ein äußerst ehrgeiziges, aber erreichbares Ziel. Die geschätzten Kosten lägen bei rund 50 Millionen Euro. Am teuersten sei die Ausrüstung der 150 S-Bahn-Züge vom Typ ET 423 und 430 mit dem notwendigen Empfangs- und Steuergeräten. „Das kostet rund 280 000 Euro pro Zug“, meint Martin. Der Einbau dauere etwa eine Woche. Die an der Strecke notwendigen Sensoren seien preisgünstiger zu haben. „Dann hätte Stuttgart eine hochmoderne S-Bahn-Steuerung und wäre weltweit ein Vorreiter.“

Region sieht Verantwortung bei der Bahn

Beim Verband Region Stuttgart (VRS) ist man hingegen skeptisch. Die Grundlagen für eine ETCS-Genehmigung fehlten in Deutschland noch, heißt es in einer Pressemitteilung. Das System scheine vielversprechende Möglichkeiten zu bieten. Bislang gebe es aber noch keine Erfahrungen mit ETCS in Deutschland.

Die Verantwortung für die künftige Signalisierung der Stammstrecke liegt für die Regionaldirektorin Nicola Schelling bei der Bahn. Der VRS verlange einen zukunftsfähigen S-Bahn-Verkehr „mit der früheren Qualität“. Laut Bahn könne künftig die geforderte Kapazität von 24 Zügen pro Stunde und Richtung ohne ETCS eingehalten werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Präsentation der Bahn für die S-Bahn München, in der für die Stuttgarter S-Bahn ebenfalls ein Bedarf für das ETCS-System genannt wird, um „Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit zu erhöhen“.