Geschwiegen und verdunkelt wurde lange in der evangelischen und auch in der katholischen Kirche. In kleinen Schritten wird nun nach der Wahrheit gesucht und Gerechtigkeit angestrebt. Die evangelische Landeskirche nimmt einen möglichen Täter detailliert unter die Lupe.

Stuttgart - Lange war die evangelische Kirche überzeugt, es gebe nur wenige Missbrauchsfälle in ihren Reihen und Gemeinden. Strukturellen Missbrauch wie in der katholischen Kirche gebe es nicht, es handele sich um Einzelfälle. Das war einmal. Denn seit einigen Jahren arbeiten die Landeskirchen Fälle sexualisierter Gewalt auf und werden fündig. Bei der Evangelischen Landeskirche in Württemberg haben sich nach ihren Angaben bislang rund 150 Betroffene gemeldet, alle erhielten inzwischen eine sogenannte Anerkennungsleistung, oft wurde auch eine Therapie bezahlt. Die weitaus meisten wurden weniger Opfer in der klassischen Kirche, also etwa durch Pfarrer, sondern in Heimen der Diakonie.

 

Nun baut die Landeskirche ihr Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt weiter aus: Nach Dutzenden Hinweisen auf Missbrauchsfälle in ihren kirchlichen Internaten vor allem in den 1950 und -60er Jahren soll eine Studie Betroffene befragen und Strukturen untersuchen. Die Fälle sollen sich in den Evangelischen Seminaren von Blaubeuren und Maulbronn zugetragen haben, ebenso im Hymnus-Chor und dem CVJM-Esslingen. Es müsse aus strukturellen Fehlern gelernt werden, teilte die Kirchenleitung am Mittwoch in Stuttgart mit. Die Untersuchung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm ist auf drei Jahre angelegt.

30 Meldungen zu sexuellen Übergriffen nach Aufruf

Nach einem Aufruf waren vor wenigen Jahren knapp 30 Meldungen zu sexuellen Übergriffen an den Seminaren bei der Stabsstelle für Prävention der Landeskirche eingegangen. Die meisten gingen nach Angaben der Kirche auf denselben mutmaßlichen Täter zurück, einen inzwischen gestorbenen Industriellen und Mäzen, der auch ein Zeltlager geleitet haben soll. „Trifft das zu, was wir vermuten, haben wir es mit einem regelrecht strategischen Vorgehen des Täters zu tun“, sagte der Direktor im Evangelischen Oberkirchenrat, Stefan Werner.

Allerdings soll der Mann auch bereits früher in Verdacht gestanden haben: „Man hat sicherlich damals schon Dinge wahrgenommen“, sagte Ursula Kress von der landeskirchlichen Ansprechstelle für sexualisierte Gewalt. „Es muss etwas bekanntgewesen sein, denn so schnell, wie er gekommen ist, war er auch wieder weg.“

Seine Täterstruktur sei allerdings sehr perfide gewesen, er sei in mehrere Einrichtungen vernetzt gewesen und habe seine jungen Opfer regelrecht angeworben. Einzelheiten seien aber noch nicht bekannt. Mit Hilfe der Studie wolle die Landeskirche daher auch mehr über diesen mutmaßlichen Täter und mögliche Mitwisser erfahren. Von mindestens einem eingeweihten und ebenfalls bereits gestorbenen Mann habe man bereits Kenntnis, sagte Kress.

„Wir wollen wissen, was geschah“

Unter anderem soll den ausschließlich männlichen Betroffenen in der Studie eine Stimme und ein Forum gegeben werden. Es müssten zudem Wege gefunden werden, wie junge Menschen heute und künftig besser vor Übergriffen geschützt werden könnten, sagte Werner. „Für uns ist ganz klar: Wir wollen wissen, was geschah. Wir wollen daraus lernen. Und wir wollen das transparent gestalten.“

Grundsätzlich sind Missbrauchsfälle vor allem in Heimen der evangelischen Diakonie seit Jahren bekannt. Schon 2011 baten die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie die Betroffenen um Verzeihung und sprachen von einem „Versagen der evangelischen Heimerziehung in den Nachkriegsjahren“. Erst vor kurzem aber hat die EKD eine zentrale Aufarbeitung in Angriff genommen. Zuvor war der Druck auf die evangelische Kirche stärker geworden, weil die katholische Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2018 ihre große Missbrauchsstudie vorgelegt und erschreckend viele Fälle von sexualisierter Gewalt offengelegt hatte.

Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg gehören rund zwei Millionen evangelische Christen an.