Zürich - Das Orang-Utan-Junge im Affengehege schlägt einen Purzelbaum, stützt sich auf seinen Händen ab und späht kopfüber zwischen seinen Beinen nach hinten. Dem kleinen Menschenaffen aber steht der Sinn nicht nach Körperertüchtigung, er will vielmehr einen Artgenossen zum gemeinsamen Spielen auffordern. Marlen Fröhlich von der Universität Zürich und ihre Kollegen begegnen solchen kommunikativen Gesten bei Orang-Utans viel öfter in europäischen Zoos als bei deren Artgenossen in der freien Wildbahn auf den indonesischen Inseln Sumatra und Borneo.
Nach Monaten der Beobachtung in der feuchten, sumpfigen Natur des dortigen Regenwalds haben die Wissenschaftler viele Videos mit diesen Menschenaffen aufgenommen. Ihre Ergebnisse diskutiert Fröhlich derzeit mit anderen Forschern in einem Preprint genannten Prozess, der in der modernen Naturwissenschaft praktiziert wird. Eine dieser Kolleginnen ist Simone Pika, die an der Universität Osnabrück lehrt und dort ebenfalls die Kommunikation bei Menschenaffen, Kindern und Raben erforscht.
Im Zoo haben die Primaten viel Zeit, sich neue Gesten auszudenken
Oft zeigen die abgedrehten Videoaufnahmen aus der Natur bereits aus dem Zoo bekannte Signale: Da streckt ein kleiner Orang-Utan einen Arm aus und hält die geöffnete Hand unter das Kinn eines anderen Tiers. „So bitten sie um Futter“, erklärt Fröhlich. Immer wieder fordert der Nachwuchs die Großen auch zum Spielen auf. Schleppen die Kleinen zum Beispiel einen Stock an, kann das der Auftakt für ein wildes Verfolgungsrennen sein, bei dem die Tiere versuchen, sich gegenseitig das Holz abzujagen. Natürlich können zwei Orang-Utans auch an beiden Enden des Stocks zerren und so eine Art Tauziehen veranstalten. Vor allem die männliche Jugend versucht sich auch gern in eifrigen, aber keineswegs aggressiven Raufereien. Und manchmal kitzeln sich die verspielten Tiere auch.
Im Zoo bittet der Nachwuchs dann mitunter auch mit Gesten wie einem Purzelbaum oder dem Kopfüber-Blick durch die Beine nach hinten zum Spiel, die in der Natur so noch nicht beobachtet wurden. Das verwundert die Zürcher Forscherin allerdings gar nicht so sehr. Im Zoo haben die Tiere ja viel mehr Möglichkeiten. „Und vor allem viel mehr Zeit und damit gute Gelegenheiten, neue Gesten zu erfinden“, erklärt Fröhlich.
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Orang-Utans gelten landläufig als notorische Einzelgänger, die abgesehen von Müttern mit ihrem Nachwuchs in der Natur meist alleine bleiben. Das stimmt für den Borneo-Orang-Utan zwar durchaus, während sich bei den Sumatra-Orang-Utans schon einmal sieben oder acht Tiere zu einer kleinen Gruppe zusammenschließen, die wenige Stunden gemeinsam in den Wipfeln des Regenwalds Futter sucht. In Zoos und Tierparks dagegen teilen sich die Orang-Utans beider Arten viele Jahre lang das gleiche Gehege und leben dort nicht einmal in den Bäumen, sondern hocken auf dem Boden. „Die Studie der Universität Zürich ist interessant, da sie erstmalig die Gesten-Produktion von zwei Orang-Utan-Arten untersucht, deren Sozialverhalten im Freiland durchaus unterschiedlich ist“, meint die Verhaltensbiologin Pika.
Das Miteinander auf engem Raum erzeugt mitunter einige Konflikte
Dieses erzwungene und dauerhafte Zusammenleben auf engem Raum bietet für die notorischen Einzelgänger der Borneo-Orang-Utans und die nur sporadisch in Gruppen lebenden Sumatra-Orang-Utans durchaus Stoff für Konflikte, die ebenfalls mit kleinen Gesten gelöst werden. Bringen die Tierpfleger zum Beispiel neues Futter ins Gehege, kann ein Orang-Utan seinen Kontrahenten schon einmal mit den Fingerspitzen antippen und ihn so wegschicken. Oder er hebt seinen Arm, signalisiert damit „ich könnte dich schlagen“ und rät so zum Weggehen. Die neuen Möglichkeiten und Zwänge eines Lebens in Gefangenschaft bringen die Orang-Utans also dazu, neue Gesten zu entwickeln. Die Hintergründe dieser Unterschiede erklärt Pika von der Universität Osnabrück: So seien Orang-Utans genau wie andere Menschenaffen sehr intelligent und könnten sich daher sehr unterschiedlich verhalten. „Das bedeutet, dass sie auf einen gut gefüllten kommunikativen und kognitiven ,Werkzeugkasten‘ zurückgreifen können“, erklärt die Verhaltensbiologin.
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Daraus können Tiere die passenden Gesten rasch hervorholen, um sich mit anderen Orang-Utans zu verständigen. Die Einzelgänger-Orang-Utans in Borneo brauchen sich nur selten mit Artgenossen abstimmen und können mit weniger Gesten auskommen als die bisweilen in kleinen Gruppen lebende Schwesterart auf Sumatra. Beim engen Zusammenleben mit extrem eingeschränkten Ausweichmöglichkeiten im Zoo dagegen können Gesten für beide Arten viel wichtiger sein, um zum Beispiel einem anderen Orang-Utan zu sagen „Bleib mir doch bitte vom Pelz und halte Abstand“.
Lassen sich die Tiere im Zoo noch relativ leicht beobachten, kämpfen die Forscher in der Natur oft mit erheblichen Problemen. So leben die Orang-Utans hoch oben in den Bäumen, wo sie viel Zeit mit dem Verzehr von Früchten, Sprossen oder auch Ameisen und Termiten verbringen. Ist ein Baum abgeerntet, versetzen sie dessen Wipfel manchmal in Schwingungen, um so die Distanz zum nächsten Baum zu verringern, zu dem sie dann im richtigen Moment hinüber klettern können. Die jungen Wissenschaftler am Boden hängen die Orang-Utans mit dieser Fortbewegung oft locker ab: „Häufig stehen wir bis zur Brust im Sumpf“, beschreibt Fröhlich ihre Feldforschung. Das bremst das Fortkommen natürlich erheblich. Queren die Orang-Utans dann auch noch einen Fluss, müssen die Menschen oft große Umwege in Kauf nehmen, um dieses Hindernis zu umgehen. „Da kommt es schon vor, dass wir das Tier nicht wiederfinden.“