Die Katastrophe in Japan lenkt die Aufmerksamkeit der Wähler auf die Atomkraft. Mannheimer Forscher wollen erklären, was vor einer Wahl passiert.

Mannheim - Vor allem die Natur- und Atomkatastrophe in Japan hat in den letzten Tagen dazu geführt, dass sich die Wahrnehmung der Wähler stärker auf das Thema Atomkraft fokussierte. Wie solche Meinungsbildungsprozesse ablaufen, das wollen die Forscher am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MSZE) in ihrer landesweiten Wahlstudie 2011 herausfinden. "Uns geht es darum zu verstehen, was im Vorfeld einer Wahl überhaupt passiert", sagt der Juniorprofessor Thorsten Faas, der die Studie betreut.

 

Dabei interessieren sich Faas und sein dreiköpfiges Team nicht für die Zustimmung zu einzelnen Parteien und aktuelle Prozentzahlen, sondern eher für andere Fragen: Wie informieren sich die Wählerinnen und Wähler, welche Medien nutzen sie dafür, worüber unterhalten sie sich, gehen sie zur Wahl, und wo machen sie dann das Kreuz? Ausgangspunkt der Studie sei die Erkenntnis gewesen, dass im Wahlverhalten mittlerweile "vieles beweglicher ist als noch vor 20 Jahren".

"Diese Wahl wird außergewöhnlich"

Im November haben die Meinungsforscher zum ersten Mal 3200 Menschen befragt und dabei auf einen Datenpool der Kölner Tochter des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts YouGovPsychonomics zurückgegriffen. Dieser demografische Querschnitt der Bevölkerung wird mehrfach - zurzeit nahezu täglich - per Mail befragt, das erziele eine hohe Rücklaufquote, sagt Faas. Und für Thorsten Faas zeichnet sich eins schon jetzt ganz deutlich ab: "Diese Wahl wird außergewöhnlich."

Das ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass viel passiert ist. Noch im Herbst hatte Faas bei den meisten Befragten eine gewisse Unsicherheit ausgemacht. Kernkraft, Bildung, Studiengebühren, Wirtschaftspolitik - die Wähler hätten nicht so recht gewusst, an welches Thema sie in Sachen Wahlentscheidung denken sollen. 

Stuttgart 21 ist nicht mehr wahlentscheidend

Damals sei es der Hälfte der Befragten nach eigenen Angaben schwergefallen, sich zu entscheiden. Das hat sich nun gründlich geändert: Der Anteil der unentschlossenen Wähler hat sich verringert, der Entscheidungsprozess "kommt eine Woche vor der Wahl zum Ende", sagt Faas. Dabei habe das TV-Duell von Ministerpräsident Stefan Mappus (CU) und dem SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid keine nennenswerte Auswirkung gehabt: Keiner der beiden Kandidaten sei am vergangenen Mittwoch eingebrochen, beide hätten sich im Einklang mit den Erwartungen befunden. Doch für eine zusätzliche Mobilisierung sei die Reichweite mit 500.000 Zuschauern einfach zu gering gewesen.

Anders sieht es bei der Kernkraft aus. Dieses Thema habe die Positionen verschoben. Mehr Menschen sehen die Kernkraft seit den Ereignissen in Japan kritisch, dass die Parteien sich in dieser Frage bewegt haben, werde ebenfalls wahrgenommen. Allerdings habe die schnelle Abschaltung der alten Reaktoren auch dazu geführt, dass gerade CDU und FDP ein "Glaubwürdigkeitsproblem" hätten, erläutert Faas. Sie gelten vielen Befragten als "eher unglaubwürdig", ganz im Gegensatz zu den Grünen, die sich beim Thema Atomkraft auf ihrem "Kernterritorium" bewegten. Das habe sich auch bei der Wahl in Sachsen-Anhalt gezeigt, bei der die Grünen ihren Stimmenanteil nahezu verdoppelt haben. Damit werde deutlich, dass das Atomthema vor allem grüne Wähler mobilisiere. Das könne sich auch auf die Wahlbeteiligung auswirken. Faas rechnet mit einem Wert von 60 bis 65 Prozent. Die Kernkraft habe momentan einen ähnlich hohen Stellenwert wie noch Ende 2010 das Thema Stuttgart 21. Damals galt der Tiefbahnhof als wahlentscheidendes Thema, seit der Schlichtung habe es an Bedeutung verloren. "Man sieht das Thema nicht mehr über die Stadt hinaus", sagt Faas.

Überschätzt werde auch die Bedeutung des Internets, meint der Juniorprofessor. Meist werde der "klassische Wahlkampf" lediglich von Aktivitäten im Netz flankiert. Dabei gehe es aber eher darum, dass die Parteien ihren Wahlkampf organisieren, als dass es einen echten Austausch mit den Wählern gebe. "Für die Breitenwirkung ist das Internet nachrangig", findet Faas. 

Studie: Wie entscheiden sich die Wähler im Land?

Studie Die Wissenschaftler des Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim untersuchen in der Wahlstudie 2011 erstmals auf Landesebene das Informationsverhalten der Bürger in Baden-Württemberg bis zur Landtagswahl am 27. März.

Leitung Thorsten Faas (35) ist seit 2009 Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten an der Universität Mannheim. 2008 promovierte er an der Universität Duisburg-Essen über "Direkte und indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und ihre politischen Folgen in Ost- und Westdeutschland". Zwischen 1996 und 2000 studierte Faas Diplompolitikwissenschaft in Bamberg und an der London School of Economics and Political Science (LSE).

Methode Die Wissenschaftler nutzen eine Forschungsmethode, die bisher nur bei der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 zum Einsatz gekommen ist. 3200 Bürger wurden im November und Dezember 2010 via Internet von der Kölner Tochter des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts YouGovPsychonomics befragt. Sie wurden in den Wochen vor der Wahl noch weitere drei Male befragt. Zugleich werden in der heißen Phase des Wahlkampfs täglich neue Daten erhoben.

Finanzierung Die Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 wird finanziert durch das Juniorprofessorenprogramm des Landes. Die Kosten liegen laut Thorsten Faas bei 130.000 Euro.