Stürze, Knochenbrüche, tiefe Wunden – das Sicherheitsproblem spaltet bei der Frankreich-Rundfahrt das Peloton.

Chambéry - Radprofis lieben das Risiko, es kann nicht anders sein. Sonst würden sie nicht, nur um ja keine Sekunde zu verlieren, auf engen, steilen Abfahrten ihr Leben aufs Spiel setzen. Sonst würden sie nicht bergab die Motorräder von Organisation, Polizei und Fotografen abhängen. Und sonst würden sie nicht einen derartigen Galgenhumor zeigen, wenn es doch mal schiefgeht.

 

Richie Porte hatte gerade einen Horrorsturz überlebt, der auch im Rollstuhl hätte enden können. Auf dem Weg vom Mont du Chat hinunter nach Chambéry war er links von der Straße abgekommen, gefallen und quer über den Asphalt gerutscht – gegen die Felswand auf der anderen Seite. Bewegungslos lag er zunächst da, doch als ihn die Tour-Ärztin Florence Pommery versorgte, fragte er sie zuerst, wo denn seine Brille sei: „Die ist teuer gewesen.“ Und als der Australier am nächsten Morgen im Krankenhaus in Chambéry mit einem Bruch des Beckens und des Schlüsselbeins aufwachte, twitterte er zuerst ein Foto von drei kleinen Scheiben Baguette, zwei Päckchen Konfitüre, einem Gläschen Orangensaft und einer Tasse Tee: „Krankenhaus-Essen. Bon Appetit!“

Wahrscheinlich muss man so gestrickt sein, um nach einem derartigen Sturz schnell wieder aufs Rad steigen zu wollen. Doch später, als Porte sich ein paar Gedanken mehr über die Geschehnisse auf der Königsetappe gemacht hatte, erklärte er: „Ich fühle noch Schmerzen, aber ich habe auch den Crash gesehen und muss sagen, dass ich Glück hatte, mit diesen Verletzungen davongekommen zu sein.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte die Diskussion um die Stürze bei der Tour schon längst Fahrt aufgenommen.

Fünf Ausfälle allein auf der Königsetappe

Denn Porte, der Chef des BMC-Teams und mutmaßlich härteste Konkurrent von Spitzenreiter Christopher Froome, war nicht das einzige Opfer gewesen. Allein am Sonntag erwischte es in Geraint Thomas, der anfangs vier Tage lang in Gelb gefahren war, und Rafal Majka zwei weitere Top-Ten-Fahrer, dazu Robert Gesink und Manuele Mori. Zuvor waren unter anderem schon Alejandro Valverde, Mark Cavendish und Ion Izagirre im Krankenhaus gelandet – drei weitere prominente Opfer. „Ich kenne keine andere Sportart, in der es eine solche Gratwanderung zwischen Leben und Tod gibt“, sagte Sprinter Marcel Kittel, „die Tour kann schneller vorbei sein, als man denkt. Einmal falsch gebremst – und es ist aus.“ Fahrfehler sind allerdings nur eine Ursache für die vielen Stürze. Es gibt noch mehr Gründe.

Zuvorderst die Kompromisslosigkeit der Profis. Nirgendwo wird härter, rücksichtsloser, konsequenter gefahren als bei der Tour, wo großer Ruhm und noch mehr Geld zu gewinnen ist. Allein der Sieg zählt – um jeden Preis. „Die Fahrweise hat sich verändert“, erklärte John Degenkolb, der beim Aus von Cavendish selbst schwer zu Fall gekommen war, „vor zehn Jahren wurde auf den Abfahrten noch nicht so attackiert.“

Dazu kommen die Hightech-Räder. Dank der Carbonrahmen und der aerodynamischen Laufräder haben sich die Geschwindigkeiten in Abfahrten um bis zu acht Prozent erhöht. Der Franzose Romain Bardet war nach dem Mont du Chat der Schnellste: Die 13,3 km auf dem schmalen, kurvigen Asphaltband hinunter ins Tal bewältigte er in einer Geschwindigkeit von 61,2 km/h – im Schnitt! Ob derart gefährliche Abfahrten sein müssen? Darüber gehen die Meinungen im Peloton ziemlich weit auseinander.

Die Tour ist kein Bahnradsport

„Der Sturz von Porte war kein Sicherheitsproblem“, sagte Marcus Burghardt, der deutsche Meister, „ich glaube nicht, dass man der Organisation einen Vorwurf machen kann. Stürze gehören leider zur Tour. Wenn man den Berg hochfährt, muss man irgendwo auch wieder runter. Das geht nun mal nicht anders.“ Ähnlich sieht es Hans-Michael Holczer. „Klar sind Abfahrten gefährlich“, erklärte der frühere Gerolsteiner-Teamchef, „aber Abfahrten gehören zur Tour. Das ist ja kein Bahnradsport.“

Allerdings gab es auch Kritik an der Streckenführung. „Es war enorm rutschig. Ich denke, die Veranstalter haben bekommen, was sie wollten“, meinte Daniel Martin, der beim Sturz von Richie Porte umgerissen worden war, das Rennen aber fortsetzen konnte. Auch Zeitfahrweltmeister Tony Martin sagte: „Wenn die Organisatoren ein bisschen an die Fahrer denken würden, könnten sie sich solche Abfahrten sparen. Die Opfer, die ich gesehen habe, waren ganz schön gefleddert.“ Und das Tour-Organ „L’Equipe“ bündelte seine Meinung in einem Wort: „Rücksichtslos!“

Das mag zutreffen, ändern wird es wohl nichts. An diesem Dienstag geht bei der Tour die Jagd nach Ehre, Erfolgen und höheren Einkommen weiter. Der nächste schwere Sturz? Ist nur eine Frage der Zeit. Das Risiko fährt mit. Immer und überall.