Die vergangenen Jahrhunderte haben ihr viele Wunden beigebracht. Jetzt wird die Stuppacher Madonna in der Kurklinik des Landesamts für Denkmalpflege behandelt.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Esslingen - Die stille Würde. Die Pracht ihres Haares, das wie eine Woge aus purem Gold über das reich verzierte Gewand fließt. Die geheimnisvolle Haltung der Hände und Finger. Ihr selbstvergessenes Lächeln.

 

Im Januar wurde die fast lebensgroße Stuppacher Madonna, eingesperrt in eine schwingungsgedämpfte, klimatisierte und feuerfeste Kiste, nach Esslingen gebracht. Seitdem ist sie, festgeschnallt auf einer drehbaren Halterung, bei den plastischen Chirurgen des Landesamts für Denkmalpflege. Der Raum, in dem sie behandelt wird, ist technisch-nüchtern. Doch Matthias Grünewalds gotische Schönheit verleiht auch diesem OP-Saal für Kunst etwas Feierliches, durch ihre bloße Präsenz.

„Selbst bei schwacher Beleuchtung scheint sie zu strahlen, ihre Lichtwirkung hat was Überirdisches“, sagt die Restauratorin Annette Kollmann, die sich mit einer Kollegin um die Madonna kümmert. Sie haben schon Werke aus der Rubens-Schule restauriert, von Cranach und von Riemenschneider. „Aber das hier ist etwas ganz Besonderes.“

Alle zwei Monate schaut eine Kommission aus Kunstprofessoren, Restauratoren, Vertretern der Pfarrgemeinde Stuppach und der Diözese Rottenburg nach der mit einem zweistelligen Millionenbetrag versicherten Patientin. Sie wollen sehen, wie die Genesung verläuft. Im November soll die Madonna ins Taubertal zurückkehren, wo sie hingehört. In der Kapelle des 700-Seelen-Dorfs Stuppach bei Bad Mergentheim findet sie hoffentlich wieder Ruhe.

Glanzstück im Semperbau

Im vergangenen Jahr war das Bild Glanzstück der Ausstellung „Rafael, Dürer und Grünewald malen die Madonna“ der Vatikanischen Museen und der Galerie Alte Meister im Dresdner Semperbau. So weit war sie noch nie weg. Strapaziös für eine 500 Jahre alte und ohnehin schon reichlich angeschlagene Dame.

Andreas Menrad, der Chefrestaurator beim Landesamt für Denkmalpflege, hatte sich lange gegen ihre Reise gewehrt. Am Ende willigte er ein – unter der Bedingung, dass die Madonna gleich danach zu ihm nach Esslingen kommt und er sie dort gründlich kurieren kann. 200 000 Euro kostet der Eingriff. Zugleich wird die Stuppacher Kapelle mit modernster Klimatechnik ausgestattet. 60 Prozent Luftfeuchtigkeit tun der wundersamen Maria gut.

Die Röntgenaufnahmen hat sie schon hinter sich. Alte Fraßgänge der Würmer kamen ans Licht, ins Holz geschlagene Nägel und der Unterbau aus Tanne, auf den Grünewald mit tierischem Leim ein Betttuch klebte und dann die Grundierung aus Champagnerkreide auftrug. Mit Hilfe des Röntgenbildes konnte das Rätsel einer Blasenbildung neben Mariens Mantel gelöst werden. Direkt darunter ist ein Ast, der hat im Lauf der Jahrhunderte geschafft und geschafft – und die Farbe gelupft.

500-fach vergrößert verwandeln sich die haarfeinen Risse im Gemälde zu einer zerfurchten Landschaft. Unter dem Mikroskop werden Farbpigmente zu Blutkörperchen: rotes Zinnober wurde entdeckt, grünes Malachit, blaues Azurit. Solche Erkenntnisse sind wichtig für die Zusammensetzung des Lösungsmittels, mit dem Maria verarztet wird. Man will sie ja nicht zu Abwehrreaktionen provozieren.

Die Rätsel der Madonna

Mit Lasern machen die Restauratoren Hohlstellen ausfindig. Mit Infrarotkameras bahnen sie sich den Weg in tief liegende Farbschichten. Dabei sind an der Frucht, die Maria dem Kinde reicht, Konturen eines Feigenblatts zum Vorschein gekommen. Vielleicht hatte es Grünewald als zu unruhig empfunden und deshalb wieder übermalt. Mit radiologischen Verfahren spüren die Denkmalpfleger schwermetallhaltige Farben wie Bleiweiß auf – und schließen daraus, wie das Bild angelegt ist. Was ist von Grünewald? Was ist Jahrhunderte später retuschiert worden? Man will die Rätsel der Madonna lösen, sie besser verstehen.

Darum hat Andreas Menrad auch die Fotoplatten besorgt, die 1926 – unmittelbar vor der letzten Restaurierung – von dem Madonnenbild gemacht wurden. Es war bis dahin mehrmals überholt (und dabei verunstaltet) worden. So hatte ein Kurpfuscher das Mariengesicht mit einer dicken Farbenkruste zugedeckt, ihr einen Schmollmund ins Gesicht geschminkt. Die Maria so zugerichtet hatten, wurden später mit Hohn überschüttet. Von „Bauernmalerei“ war die Rede, von einem „Tünchermeister“, der mit seinem „üblen Pinsel den ganzen Himmel überschmierte, die Kinds-Bäcklein anstrich und das ganze Gesichtchen entstellte“.

Damals blieb nur eine Lösung: alles weg, was nicht original Grünewald war. Alle Lücken bis zur blanken Grundierung offenlegen und sie dann im Sinne ihres Schöpfers wieder ausfüllen. Was heute aussieht wie ein Hautausschlag auf der Marienstirn, sind ausgemalte Kahlstellen von damals, die inzwischen nachgedunkelt sind. Solche Flecken bemalt Kollmann jetzt wieder neu. Für die ersten zwei Quadratzentimeter Himmelsblau brauchte sie zwei Stunden und zwei Dutzend Farbtöne. Als Nächstes macht sie die Blätter am Ölbaum wieder grün. Die sind zum Teil blau geworden, weil das Gelb in ihnen verblichen ist.

Das Bild ist einen halben Zentimeter geschrumpft

Keiner ist so nah an der Madonna wie Annette Kollmann. Keiner kennt sie so gut, ist dichter auf der Spur Matthias Grünewalds. Sie hat festgestellt, dass der Meister bei den Bergen am linken Bildrand mit Finger und Handballen arbeitete. Dass er das Jesuskind nachträglich etwas fülliger machte als in der Urfassung. Dass die himmlische Engelschar erst vergoldet war, dann aber gelb übermalt wurde – sogenannte Reuezüge des Künstlers. Sie hat herausgefunden, dass das Werk in den vergangenen acht Jahrzehnten um fast einen halben Zentimeter geschrumpft sein muss.

Kollmann tupfte Millimeter für Millimeter den Firnis ab, den ein Laie (in bester Absicht) Mitte der 80er Jahre draufgespachelt hatte. Der Effekt nach der Reinigung war, als würde man beim abendlichen Après-Ski in der Hütt’n plötzlich merken, dass einem noch die Gletscherbrille auf der Nase sitzt. Aber auch die alten Retuschen sind jetzt viel klarer zu sehen.

Kollmann hat die kleinen wulstartigen Ränder, wo durch die Schrumpfung der Kitt der letzten Restaurierung auf die Originalfarbe geschoben wurde, mit einem Skalpell entfernt. Sie hat Kleber in Hohlstellen gestrichen. Ihn mit einer Kanüle zu injizieren wäre zu gefährlich. Die Madonna wurde schon so oft verletzt.

1514 in Auftrag gegeben und drei Jahre später vollendet, war das Gemälde als Andachtsbild für die neue Kapelle in der Aschaffenburger Stiftskirche bestimmt. Um 1575 wurde es aus dem Rahmen genommen. Die genauen Hintergründe und ihr weiteres Schicksal kennt nur die Madonna selbst. Erst 1809 tauchte sie wieder auf – in der Konkursmasse bei der Auflösung des Mergentheimer Deutschordensschlosses. 1812 kaufte Pfarrer Balthasar Blumhofer die Muttergottes für sich und seine Stuppacher Bauern. So fand sie ihr wahres Zuhause.

Die mystische Vermählung

Kunsthistoriker wie Hanns Hubach oder Bruno Hilsenbeck haben versucht, die Stuppacher Madonna zu erklären, sie bis ins Innerste zu begreifen. So verweise das Bild auf das Hohelied Salomos: „Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossen Garten, ein verschlossen Quell, ein versiegelter Born, dein Gewechs ist wie ein Lustgarten von Granatepfeln, mit edlen Früchten . . .“, heißt es in der alttestamentarischen Liebesdichtung.

Die Deutung geht etwa so: der durch ein Holzkreuz verschlossene Garten über den Bienenstöcken (als Zeichen der Unberührtheit) ist augenfällig. Der versiegelte Born nur angedeutet durch das trockene Bassin, auf dessen Brüstung die Madonna sitzt. Doch die Quelle ist nicht versiegt: Der Ölbaum neben ihr trägt gleichzeitig Früchte und Blüten – ebenso ein Jungfräulichkeitssymbol wie die Lilien. Arzneipflanzen wie Weißdorn, Färberkamille, Frauenschuh und Eibisch zu Füßen Mariens machen sie zur Heilsbringerin, zum transzendentalen Wesen.

Das seltsam kreisende Fingerspiel um den Granatapfel ist die Schlüsselszene des Bilds. Die Frucht steht für die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Die unnatürlich gespreizte Geste des Kindes ist mehr als nur neugieriges Zugreifen. Es erinnert an die Segnungsgeste. Das Kind segnet nicht nur den Granatapfel, sondern auch Maria. Sie ist zugleich Kirchenmutter und Braut – auch sichtbar im Gegensatz ihrer beschützenden rechten Hand, mit der sie das Jesuskind hält, und der ringgeschmückten linken Hand mit ihrer extravaganten Haltung. Grünewald zeigt die mystische Vermählung von Christus und Maria. Mit ihr als Himmelskönigin kann der Mensch getrost das Jüngste Gericht erwarten.

Nur, ob das mit dem Granatapfel auch stimmt? Das vom Meister wieder übermalte Feigenblatt neben der Frucht, das die Infrarotkameras der Restauratoren jetzt ausgemacht haben, spricht eher dagegen. Die Madonna wurde vielfach durchleuchtet, man ist bis in ihre kleinsten Poren vorgedrungen, hat sie auf Hunderten Seiten wissenschaftlicher Arbeiten zu dechiffrieren versucht. Ihr ganzes Geheimnis wird sie nie preisgeben.

Wenn sie Ende des Jahres Esslingen verlässt, soll sie nur einen dünnen Schutzanstrich bekommen. Künftig wird das Bild in Stuppach hinter hochentspiegeltem und UV-beständigem Verbundglas hängen. Manche befürchten, das könnte etwas Trennendes zwischen sie und die jährlich gut 15 000 Besucher bringen. Doch Andreas Menrad meint es nur gut mit ihr.