Sturm Xaver heult über die Hallig Hooge hinweg und peitscht das Wasser hoch. Im Gasthaus Zum Seehund treffen sich fünf erfahrene Insulaner und wachen über das Schicksal ihrer Hallig.

Hallig Hooge - Es ist kurz vor zwei, als sie zum ersten Mal sehen wollen, was die Nordsee in dieser Nacht aufzubieten hat. Wortlos erheben sich vier Männer und eine Frau von den Stühlen, auf denen sie die vergangene halbe Stunde gesessen haben. Wortlos gehen sie zur Tür hinaus. Draußen schreit der Wind. Waagerecht fliegende Hagelkörner prallen gegen Mützen und Wetterjacken. Feine kalte Stiche treffen die Gesichter. Breitbeinig stemmen sich die Fünf gegen den Sturm, und nach vierzig Schritten stehen sie ihr gegenüber: der See.

 

Taschenlampen leuchten Wellenkämme ab, verfolgen, wie weit sie aufs grasbewachsene Ufer vordringen. Lichtkegel fallen auf angespülte Heuballen und staken gelegentlich auch in den Himmel, der trotz Hagel schwarz und klar und sternenübersät über allem hängt. Es ist Sturmflut auf der Hallig Hooge.

„Viel Platz ist nicht mehr“, schreit einer der Fünf. „Und wir haben noch eine Stunde vor uns.“ Eine Stunde, in der das Wasser weiter steigen wird. Das Wasser, das die tiefer gelegenen Teile der Hallig seit dem Nachmittag schon überschwemmt hat und nun an dieser Erdaufschüttung leckt, auf der die Häuser der Leute stehen. Die Erdaufschüttung heißt die Hanswarft, 15 Häuser, dicht beieinander, mit derzeit 30 Bewohnern. Sie ist, wenn man so will, das Stadtzentrum von Hooge, von sechs Quadratkilometern Überflutungsgebiet mit zehn besiedelten Erdhügeln, auf denen 110 Menschen leben.

Das Wort Sorge nimmt keiner in den Mund

Die fünf haben genug gesehen. Sie wanken zurück zur Gastwirtschaft Zum Seehund. „Und?“, fragt einer der Dagebliebenen. „Naja“, bekommt er zur Antwort. Dann bricht der nächste Trupp auf.

Zehn Warftbewohner haben sich um halb zwei in der Nacht zum Freitag im Seehund eingefunden. Bei Sturmfluten machen sie das immer so. Sie halten Wache, rücken noch enger zusammen als ohnehin schon. Sie fragen „Und?“, und sie antworten „Naja“. Zwischendurch ruft dauernd jemand die Nummer der Pegelmessstelle an und stellt das Telefon laut. Eine Frauenstimme sagt: „Hier ist der automatische Messwertansager der Gemeinde Hooge. Pegel Hooge, Wasserstand in Zentimeter: 863, Tendenz: steigend.“ Der normale Hochwasserwert auf Hooge liegt bei 630 Zentimetern. Irgendjemand sagt „Naja.“

Es ist eine merkwürdige Veranstaltung. Die Menschen bleiben nachts wach, sie sitzen im Halbdunkel eines Gasthofs beisammen, sie gehen immer wieder raus, um nach dem Meer zu sehen. Sie machen das wohl aus einer Sorge heraus. Aber falls hier einer in ernsthafter Sorge sein sollte, ist davon nichts zu bemerken. Das Wort nimmt keiner in den Mund.

Es ist im Grund eine Nacht wie jede Sturmflutnacht. Sie tun, was sie tun können, und können doch eigentlich gar nichts tun. Niemand verbreitet Angst. Und obwohl sie alle paar Minuten „Da kann man nichts machen“ sagen, herrscht hier auch keine Schicksalsergebenheit. Hier scheint gar nichts zu herrschen, außer die Nordsee.

Zweifel daran, dass die Warften hoch genug sind

„Wasserstand in Zentimetern: 881, Tendenz: steigend.“ Die Wettervorhersagen hatten sehr ernst geklungen in den vergangenen Stunden. Windspitzen von 180 Kilometern pro Stunde seien zu erwarten, teilten die Meteorologen mit. Die Hydrologen erwarteten Flutwasserstände, die dreieinhalb Meter über dem Mittelwert liegen. Ab ungefähr drei Metern Wasser über der durchschnittlichen Fluthöhe werden die Erdgeschosse der Häuser auf der Hanswarft nass.

„Wer will noch Kaffee? Wer will Bier?“, fragt der Seehund-Wirt. Ein paar Hände heben sich, der nächste Erkundungstrupp geht raus, und Erco Jacobsen, der als Leiter des Hooger Touristikbüros auf der Hanswarft arbeitet, spricht Werner Boyens an. „Bernie, du bist doch der Älteste hier in der Runde. Erzähl‘ doch mal was.“

Boyens, ein einstiger Seefahrer, der heute Bilder malt, strafft sich: „Wir hatten ja Sturm Christian vor ein paar Wochen“, sagt er, „und zwei solche Stürme in vier Wochen macht uns nachdenklich.“ Er fühlt sich sofort unwohl mit diesem „Wir“, mit diesem Wortführerton, den er da gerade angeschlagen hat. Aber er ist nun einmal dazu angehalten worden, eine Art Rede zu halten. Also hält er sie. „Vielleicht sind wir jetzt wieder ein bisschen aufmerksamer geworden“, sagt er. „Sind unsere Warften in Zukunft hoch genug? Das bezweifle ich.“

Boyens hat einen gerahmten Zettel von Zuhause mitgebracht. Darauf steht: „Fragen, die immer wieder vorkommen!“ Es sind Fragen, die von Sommergästen gestellt werden, und empfohlene Antworten darauf: „Was machen Sie im Winter?“ – „Nichts!“ „Leben Sie immer hier?“ – „Ja.“ „Wann war das letzte ,Landunter‘?“ Für die Antworten darauf reicht der Platz auf dem Zettel nicht aus. Es sind über die Jahre immer neue Sturmfluten dazugekommen.

Die Jahreszahl 1962 hat jeder im Kopf

Das Wort Klimawandel fällt nicht in Boyens‘ Rede. Dazu ist seine handgeschriebene Statistik zu lückenhaft. Auch die Landunter-Zählungen der Wetterforscher zeigen nicht auf, dass sich da gerade etwas ändert. Sie liefern bestenfalls Anhaltspunkte. Und das alles andere überlagernde Sturmflutdatum liegt ohnehin mittlerweile 51 Jahr zurück. Es ist das Jahr 1962. Damals starben auf der Hanswarft einige Hühner. Menschen kamen – anders als in Hamburg – nicht zu Schaden. Dennoch ist die Jahreszahl hier präsent.

Im Kopf von Hartwig Binge zum Beispiel. Er ist Jahrgang 1958, war 1962 also vier Jahre alt, und die früheste Erinnerung, die er hat, rührt aus diesen Tagen. Seine Familie ist seit Generationen auf Hooge, sie betreibt Landwirtschaft. Binge sieht seinen Vater noch die Schafe in den Hausflur treiben und die Kühe im Stall, die bis zum Bauch im Wasser stehen. Sich selber verortet er auf dem Arm des Vaters, der ihn aus dem Haus trug und in den benachbarten Rohbau des Onkels brachte.

Binge sagt: „Wenn es passiert, kann man sowieso nicht viel machen.“ Aber was sie machen können, das machen sie. Sie haben einen Deich um die Hallig gebaut, der Flutwasserstände bis einen Meter fünfzig über Normal hält. Sie haben die Warften erhöht. In den Wohnhäusern gibt es Schutzräume in den Obergeschossen, die auf eigenen, tief im Boden gründenden Fundamenten stehen. Sie haben Vorräte besorgt und die Erdgeschosse leergeräumt. Was sie dort an Möbeln nicht herausbekamen, die schweren Erbstücke, stellten sie auf Tische und die Tischbeine in Eimer. Vor den Türen liegen Sandsäcke. Und als sie mit all dem fertig waren, zogen sie sich Gummisachen an und gingen zum Seehund, um beisammen zu sein.

Ein Viertelmeter hat am Ende gefehlt

Die Telefonstimme sagt: „Wasserstand in Zentimetern: 884, Tendenz: steigend.“ Das sind etwa zweieinhalb Meter über Normal. Boyens, der eben noch so warnend von ihrer aller Nachdenklichkeit sprach, sagt jetzt laut: „Ich gehe davon aus, dass wir mit 97 Prozent Wahrscheinlichkeit bald wieder ins Bett gehen können.“ Wie kommt er darauf? Gefühl? Erfahrung? Er bleibt die Antwort schuldig. Es fragt auch keiner nach.

„Wasserstand in Zentimetern: 889, Tendenz: steigend.“ „Wasserstand in Zentimetern: 892, Tendenz: steigend.“ „Wasserstand in Zentimetern: 904, Tendenz: steigend.“ „Wasserstand in Zentimetern: 894, Tendenz: fallend.“ Die letzte Ansage hört niemand mehr von den Menschen im Seehund. Sie erfolgt kurz nach vier Uhr. Alle sind längst wieder in ihren trockenen Häusern. Ein Viertelmeter hat am Ende gefehlt. Boyens hat recht behalten.