Die Bahn hat offenbar Mehrkosten verschwiegen. Das Verkehrsministerium findet aber keine belegbaren Hinweise für ein Täuschungsmanöver.

Stuttgart - Nachdem eine ministeriumsinterne Task Force in den vergangenen Wochen meterweise Akten aus den Archiven der früheren CDU-FDP-Landesregierung gesichtet hat, hat Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) am Donnerstag seinen Ministerialdirektor Hartmut Bäumer vorgeschickt, um eine Zwischenbilanz im Streit über verschwiegene Mehrkosten bei Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm zu ziehen.

 

Bäumers Fazit fiel zwiespältig aus: Einerseits könne keinem der im zuletzt von Tanja Gönner (CDU) geführten Verkehrsministerium der Vorwurf gemacht werden, Fakten zu Gunsten der Bahn beschönigt zu haben. Die mit dem Projekt befassten Beamten hätten vielmehr immer wieder darauf gedrungen, dass die Bahn mehr belastbare Daten und Fakten vorlegen müsse. Andererseits habe der Schienenkonzern - offenbar im Benehmen mit der Regierungsspitze - bestimmte Kostenrechnungen "nicht kommuniziert" und vor Ablauf der Ausstiegsklausel aus der Finanzierungsvereinbarung vom 2. April 2009 zum Jahresende nur unvollständige Daten zum aktuellen Kostenansatz geliefert. Auf Basis der vorgelegten Berechnungen und Schätzungen hatte der Lenkungskreis zu Stuttgart 21 am 10. Dezember 2009 die Fortführung des Projekts mit Baukosten von rund 4,1 Milliarden Euro beschlossen. Im obersten S-21-Entscheidungsgremium mit am Tisch: der damalige Regierungschef Günther Oettinger, Verkehrsminister Heribert Rech, Stuttgarts OB Wolfgang Schuster (alle CDU) und Bahn-Chef Rüdiger Grube.

Kostensteigerungen unter der Decke gehalten

Juristisch wollte Bäumer das Vorgehen der Bahn zwar nicht eindeutig qualifizieren: "Es gibt keine belegbaren Hinweise auf eine bewusste Täuschung." Er fügte aber hinzu: "Ich möchte so einen Vertragspartner nicht haben." Zuvor war durch Medienberichte bekannt geworden, dass die Bahn offenbar ihre intern errechneten Kostensteigerungen für den geplanten Tiefbahnhof und für die Neubaustrecke in den Jahren 2002 bis 2008 unter der Decke gehalten hatte, um die milliardenschweren Projekte politisch nicht zu gefährden.

In den am Donnerstag vorgelegten Unterlagen zur Kostenentwicklung bei S 21 finden sich dafür Belege. So heißt es etwa in einem ministeriumsinternen Papier vom 6. November 2009, die Bahn habe bereits bei Abschluss der Finanzierungsverträge gewusst, "das im Tunnelbau mit deutlich höheren Kosten zu rechnen ist" als damals offiziell veranschlagt. An anderer Stelle des Dokuments zur "Kostenentwicklung Stuttgart21" werden die Ministerialbeamten aus dem Hause Gönner noch deutlicher: "Die DB wird erklären müssen, wie es zu dieser Kostenexplosion kam. Ihre bisherigen Verlautbarungen, Stuttgart 21 sei das bestgeplante Projekt Deutschlands, hat sich selbst ad absurdum geführt." Zugleich hielten sie schriftlich fest, die Regierung müsse gegenüber Bahn-Chef Grube deutlich machen, "dass er keine weiteren finanziellen Zugeständnisse des Landes erwarten kann". Ein weiterer Vermerk zeigt, dass sich auch die damalige CDU-FDP-Landesregierung juristisch absichern wollte: Deren Anwalt hat sich demnach am 23. Oktober 2009 zur "Frage der arglistigen Täuschung durch die DB AG geäußert" - ohne ein abschließendes Votum abzugeben.

Anmerkung der Redaktion: Wir hatten zunächst berichtet, dass Stefan Mappus und Tanja Gönner im Dezember 2009 im Entscheidungsgremium saßen. Wir haben den Fehler korrigiert.

Bahn soll Fragen beantworten

Über die Tatsache, dass die Bahn laut den Dokumenten schon 2008 intern von Projektkosten in Höhe von 4,9 Milliarden Euro ausging, wurden nach StZ-Recherchen OB Schuster und Regionalpräsident Thomas Bopp bei einer Besprechung am 25.11.2009 vom Ministerium informiert. Schuster sagte dazu auf Anfrage, für ihn seien einzig und allein die Zahlen relevant, die der Bahn-Vorstand dem Lenkungskreis "offiziell vorlegt und bestätigt hat". Bopp wiederum erklärte: "Dass die Bahn schon vor Abschluss der Finanzierungsvereinbarung die Kosten von rund 4,9 Milliarden Euro verlässlich kalkuliert haben soll, weiß ich bis heute nicht aus gesicherter Quelle."

Bäumer bemängelte zugleich, dass auch der neuen grün-roten Landesregierung bis heute keine Belege für jene abgeschätzten Kosteneinsparpotenziale in Höhe von rund 900 Millionen Euro vorliegen, mit denen Bahn-Chef Grube die Baukosten, die bereits 2008 DB-intern mit 5 bis 5,2 Milliarden Euro veranschlagt waren, auf aktuell 4,088 Milliarden plus einen Risikofonds von 435 Millionen Euro zu drücken. Auch auf die vom früheren S-21-Projektleiter Hany Azer erstellte Risikoanalyse, die ebenfalls Mehrkosten von bis zu 1,2 Milliarden beim Bau des Tiefbahnhofs aufgelistet hatte, warte die Landesregierung bis heute vergebens. Man habe der Bahn einen umfangreichen Fragenkatalog zukommen lassen und die Einberufung einer Sitzung des Lenkungsausschusses beantragt, um der Bahn die Möglichkeit zu geben, vor der Vergabe weiterer Bauaufträge Ende Juli die Fragen zu beantworten.

Hintergrund: Kosten der ICE-Trasse

Neubaustrecke Wie berichtet, soll die Bahn auch für die geplante Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm bereits 2002 intern mit Kosten von 2,6 Milliarden Euro kalkuliert haben. Den Bundestag und die damalige rot-grüne Bundesregierung ließ man freilich in dem Glauben, die im Bundesverkehrswegeplan ausgewiesene ICE-Trasse sei für nur 1,35 Milliarden zu haben.

Aktenlage Dazu erklärte der Ministerialdirektor Hartmut Bäumer am Donnerstag, die DB habe bei einer Besprechung am 4. Juni 2003 zugesagt, den Bund über die Kostenentwicklung zu informieren. Ob dies vor den Beschlüssen über die politische Priorisierung der Strecke geschehen sei, "ergibt sich aus den Unterlagen nicht".