Zwei Jahrzehnte hat der Bund für Umwelt und Naturschutz gegen Stuttgart 21 gekämpft. Das ist vorbei. BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender erzählt im Interview, welcher Weg nun eingeschlagen werden soll.

Stuttgart - Der BUND nennt es eine Neupositionierung. Das K-21-Umstiegskonzept halten die Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender und Regionalgeschäftsführer Gerhard Pfeifer für nicht umsetzbar. Der BUND will nun einen anderen Weg gehen.

 

Frau Dahlbender, der Bund für Umwelt und Naturschutz im Land ist nicht mehr gegen Stuttgart 21. Sie als Vorsitzende sprechen von einer Neupositionierung. Ist das für jahrzehntelange Gegner nicht etwas unterspannt?

Dahlbender: Wir waren strikt gegen S 21, dann haben wir schweren Herzens das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptiert, uns aber weiter kritisch gemeldet. Jetzt haben wir unsere Position überdacht, weil die Herausforderungen bei Klimaschutz und Luftreinhaltung gewaltig angestiegen sind. Wir brauchen einen leistungsfähigen Bahnknoten.

Was sagen Ihre 90 000 Mitglieder dazu?

Dahlbender: Wir haben vom größten Teil keine negativen Meldungen, nur die eine oder andere kritische Stimme, das ist bei Konkretisierungen so. Unsere Mitglieder hatten nach der Volksabstimmung auch akzeptiert, dass wir die vorderste Front des Widerstands aufgeben.

Die Volksabstimmung war vor sieben Jahren.

Dahlbender: Zunächst haben wir abgewartet, wie sich Stuttgart 21 entwickelt. Wir haben uns immer kritisch geäußert, zum Beispiel beim Artenschutz. Jetzt ist der Zeitpunkt, uns neu zu positionieren.

Sie waren eine der Galionsfiguren des Widerstands und 2011 Sprecherin des Bündnisses für einen ausgebauten Kopfbahnhof, K 21. Jetzt brechen Sie mit den Gegnern.

Dahlbender: Wir halten deren Umstiegskonzept nicht für umsetzbar und auch nicht für realistisch. Auch nicht in den Zahlen. Wenn über 70 Prozent der Tunnel und weitere Bauwerke weit gediehen sind, ist ein Ausstieg nicht mehr sinnvoll möglich. Wir formulieren jetzt Kosteneinsparungen, sinnvolle Änderungen und vor allen Dingen die Ergänzung mit acht oberirdischen Gleisen.

Herr Pfeifer, Sie haben als Regionalgeschäftsführer vor Jahren in einem Teilbereich erfolgreich geklagt. Klagt der BUND nun nicht mehr?

Gerhard Pfeifer: Die Schlacht um den Kopfbahnhof in seiner ursprünglichen Form haben wir verloren. Wir geben aber keinen Freibrief. Es wird dort geklagt, wo es sich aufdrängt. Das Projekt ist nicht ganz durch, zum Beispiel am Flughafen und beim Abstellbahnhof in Untertürkheim. Wenn dort Sachverhalte gegen unsere Ziele verstoßen, also gegen Arten- und Naturschutz, prüfen wir, ob Klagen sinnvoll sind. Beim Artenschutz zeichnet sich ein Konflikt wegen der Eidechsen ab.

Warum sollte jetzt die Zeit reif sein für das Kombimodell eines Doppelbahnhofs?

Pfeifer: Der Kombibahnhof ist ein Modell aus den S-21-Frühzeiten, es stammt nicht aus der Geißler’schen Faktenschlichtung. Es gab 1994 dieses Kombimodell vom Verkehrsclub Deutschland, VCD, von Pro Bahn und uns. Dieses Modell ist bahnbetrieblich das beste. Wir haben es damals verworfen, weil wir sagten, die Eingriffe bei S 21 in den Schlossgarten sind uns zu schwergewichtig, haben uns deshalb auf den Kopfbahnhof konzentriert. Der Schlossgarten ist abgeholzt. Wir können das Kombimodell guten Gewissens wiederbeleben.

Dahlbender: Damit lassen sich zum Beispiel Doppelbelegungen im Tiefbahnhof vermeiden, und wir können viele Vorteile für den Fahrplan realisieren.

Welche sind das?

Pfeifer: Entscheidend ist die Kapazität. Wir haben dann mehr Bahnsteige und Gleise. Bei Störfällen und Tunnelwartungen haben wir eine Ausweichebene. Mit Stuttgart 21 allein werden wir die enormen Zukunftsaufgaben im Bahnverkehr nicht bewältigen können.

Über die alten Gleise sagt die SPD, sie seien Schienenschrott.

Dahlbender: Natürlich musste und muss der Bestand modernisiert werden.

Pfeifer: Die Stellwerktechnik war die Achillesferse. Sie wurde dank Stuttgart 21 erneuert. Rosenstein- und Pragsatteltunnel wollen wir beim Kombi-Modell weiter nutzen. Durch den Pragtunnel sollen S-Bahnen fahren, also muss er noch gut sein, und die Neckarbrücke ist noch in recht gutem Zustand.

Die Stadt dringt auf Wohnungsbau. Das könnte dann ein Problem werden.

Pfeifer: Bei Kombi bleiben immer noch große Flächen übrig. Wir würden vier bestehende Zufahrtsgleise aus Cannstatt und Feuerbach weiter betreiben, im Bahnhof acht. Bei den Plänen der Stadt ist sowieso ein Biotop für wärmeliebende Arten vorgesehen. Und die Stadt kann die Gleisfläche nicht auf den letzten Tropfen für Neubauten ausmosten, denn sie braucht Flächen für Frischluft, das wären die restlichen Bahnflächen.

Ihre Pläne kosten viel Geld. Wo sehen Sie Einsparmöglichkeiten bei Stuttgart 21?

Pfeifer: Am Flughafen. Was da geplant ist, ein Bahnhof in 27 Meter Tiefe und die Tunnel, ist Wahnsinn und kostet mindestens 750 Millionen Euro. Die Bahn selbst hat Anfang 2018 alternativ einen Halt am Bosch-Parkhaus vorgeschlagen. Das sagt alles.

Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla hat den rasch wieder zurückgezogen.

Pfeifer: Aus politischen Gründen. Man sah die Gefahr, dass das ganze S-21-Paket aufgeschnürt wird.

Dahlbender: Die Kombi-Lösung wird wahrscheinlich etwas mehr kosten, als man sparen kann, aber ein Knotenpunkt S 21, der die großen Verbindungswege infrage stellt, wäre der größere Nachteil für Bahn und Stadt.

Die Bahn hat laut Vorstandschef LutzFinanzprobleme. Erwarten Sie unter diesen Vorzeichen Gesprächsbereitschaft?

Dahlbender: Das hoffen wir. Wir wollen auf die Bahn und alle S-21-Partner zugehen, sie müssen in eine Diskussion kommen.

Pfeifer: Es gibt das Damoklesschwert der Bahnklage über die Aufteilung der S-21-Mehrkosten. Die wirkt wie Mehltau. Alle sollten die Debatte auf sich nehmen.

Sie sind spät dran. Im November könnte am Flughafen gebaut werden.

Dahlbender: Die Zeit für Einsparungen ist knapp, das ist klar. Aber die Bahn kann auch erst die Strecke bauen und den Tiefbahnhof am Flughafen zurückstellen.

Wie sieht der Bahnverkehr in Stuttgart in 20 Jahren aus, wenn Sie scheitern?

Pfeifer: Ein Szenario könnte sein, dass er ausgedünnt wird, weil die Kapazitäten hier für den Deutschland-Takt fehlen. Die Züge würden an Stuttgart vorbeifahren, vielleicht noch mit Halt in Untertürkheim.

Sie denken nicht nur an Stuttgart?

Dahlbender: Es geht um Strukturpolitik für die ganze Region. Ich bin von Ulm aus heute schon schneller in Berlin, wenn ich in Augsburg oder Donauwörth umsteige, anstatt über Stuttgart zu fahren.

Pfeifer: Die Bahn wird in den nächsten Jahrzehnten das Verkehrsmittel schlechthin für mittlere Strecken werden, schon wegen dem Klimaschutz. Wir wollen dann keinen Provinzbahnhof hier, mit dem wir uns der Aufgabe nicht stellen können. Deshalb müssen die Grabenkämpfe enden. Wenn nur S 21 kommt und die oberirdischen Anlagen weg sind, ist keine Verbesserung mehr möglich.

Sehen Sie im Video die zehn wichtigsten Fakten zum Thema: