Bis auf die Grünen, die nach der Volksabstimmung nicht mehr für einen Baustopp kämpfen, sind die Fraktionen ihren Positionen treu geblieben. Künftig bestimmen wohl die Auswirkungen der Baustellen und der Städtebau die Debatte.

Stuttgart - Erfolge haben die Grünen in Stuttgart schon viele gefeiert. Aber erst vor fünf Jahren, bei den Gemeinderatswahlen 2009, haben sie ihren Siegeszug begonnen, der sie zuerst zur stärksten Fraktion im Rathaus machte, dann Winfried Kretschmann auf den Sessel des Ministerpräsidenten hievte und schließlich Fritz Kuhn zum ersten grünen Oberbürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt kürte. Dabei profitierte die Partei auch vom Rückenwind, den ihr der Protest gegen das Großprojekt Stuttgart 21 bescherte.

 

Eine der spannenden Fragen der Kommunalwahl am 25. Mai ist deshalb, ob und wie sich die Positionen zu Stuttgart 21 auf das Ergebnis auswirken. Dass sie – wie früher – wahlentscheidend sind, glaubt mittlerweile kein Experte mehr. Das große Streitthema der vergangenen Jahre bewege die Menschen nicht mehr so stark, weil die Weichen in Richtung Realisierung gestellt seien, heißt es. Das Projekt stoppen wollen nur noch SÖS und Linke, sie sind auch die einzigen, die Stuttgart 21 im Wahlkampf thematisieren – zuletzt am Dienstag, als die Linke einen Bundestags-Untersuchungsausschuss forderte und ihr Stadtrat Thomas Adler vom „größten Betrugsfall der Industriegeschichte“ sprach. Das Befürworter-Lager von CDU, SPD, Freien Wählern und FDP bleibt seiner zustimmenden Position treu. Die Grünen haben den Kampf gegen das Projekt, das sie weiterhin ablehnen, nach der Volksabstimmung aufgegeben und sprechen von kritischer Begleitung. Im Aktionsbündnis der Gegner sind sie jedenfalls nicht mehr vertreten, im Gemeinderat lassen sie aber keine Gelegenheit für kritische Fragen aus. Dennoch haben sich S-21-Gegner enttäuscht von der Partei abgewendet.

Konflikte nicht beigelegt

Doch auch wenn die grundsätzlichen Schlachten geschlagen scheinen, die Volksabstimmung und der Bahnaufsichtrat mit der vorläufigen Übernahme der Kosten bis 6,5Milliarden Euro das Signal auf grün stellten, sind die Konflikte im Gemeinderat zwischen Gegnern, Skeptikern und Befürwortern nicht vorüber – und werden auch das neue Stadtparlament beschäftigen.

Dieser Streit wird beispielsweise wieder aufbrechen, falls es dem Aktionsbündnis gelingt, für die beiden Bürgerbegehren, die sich mit der Leistungsfähigkeit des neuen Tiefbahnhofs und der Kostenexplosion beschäftigen, die nötigen 20 000 Unterschriften zusammen zu bekommen. „Die Zeichen stehen darauf, dass die noch fehlenden Stimmen in den nächsten Wochen erreicht werden“, sagt jetzt Eisenhart von Loeper vom Aktionsbündnis gegen S 21. Dann wird der Gemeinderat über einen Bürgerentscheid abstimmen. Da er dafür den Weg vermutlich nicht frei machen wird, werden die Initiatoren wie beabsichtigt vor die Gerichte ziehen – mit der Hoffnung auf ein Urteil, das so viel Sand ins S-21-Getriebe wirft, dass es zum Stillstand kommt.

Für die Bahn ist der „Point of no return“ längst erreicht

Ansonsten zeichnete sich in den vergangenen Monaten im Rat bereits ein Bild ab, das wohl auch das nun neu zu wählende Stadtparlament in den kommenden fünf Jahren prägen wird. Grüne und SÖS/Linke werden die Nachteile, die sich mit dem Projekt und den Bauarbeiten verbinden, herausstellen; die Befürworter werden die Vorteile ins Bewusstsein rücken, die sie vor allem im besseren Verkehr und in der städtebaulichen Chance durch das frei werdende Gleisareal und das neue Rosensteinviertel sehen – wobei erstere den Vorteil haben, dass sie aktuelle und konkrete Missstände zum Thema machen. Das Befürworterlager schwärmt dagegen von der Zukunft. Die Bahn selbst, auch das ist nach dem positiven Aufsichtsratsbeschluss vom März 2013 klar, wird versuchen, Fakten zu schaffen, die eine Umkehr ausschließen. Für sie ist der „Point of no return“ längst erreicht.

Aktuelle Streitfragen gibt es aber genug. So wird der Bericht zum Brandschutz im neuen Tiefbahnhof in den nächsten Monaten dem Gemeinderat vorgelegt. Ebenfalls drängend sind die Fragen nach den Auswirkungen der zahlreichen S-21-Baustellen, zumal wenn in diesem Sommer, wie zum wiederholten Mal angekündigt, die Arbeiten am Trog für den neuen Tiefbahnhof im seit vier Jahren freigeräumten Schlossgarten tatsächlich beginnen. Und auch bei den aktuellen Planänderungsverfahren für den Nesenbachabwasserkanal oder die Grundwasserentnahme ist die Stadt gefragt – nicht zuletzt, weil der Stadtbahn- und Autoverkehr umgeleitet wird. Ungeklärt ist auch, wie sich die Stadt weiter in dem Verein engagiert, der das S-21-Kommunikationsbüro trägt – auch hier könnten Kuhn und der neue Gemeinderat einen anderen Weg wählen. Folgt man jenen, die das Projekt für unumkehrbar halten, dann hat der neue Gemeinderat aber vor allem eine Aufgabe: die Weichen für die Bebauung des Rosensteinviertels richtig zu stellen.

Das sagen die Grünen

Die Grünen wollen ihre Kritik am „Planungs- und Finanzierungsdesaster Stuttgart 21“ politisch weiter verfolgen, auch wenn sie das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptieren. „Leider hat sich bei keiner der Bundestags-, Landtags- und Gemeinderatswahlen der letzten 20 Jahre und auch nicht bei der Volksabstimmung 2011 eine Mehrheit gegen Stuttgart 21 entschieden. Die respektieren wir“, so die Partei. Die skeptische Haltung zu Stuttgart 21 habe sich dadurch in der Sache aber nicht geändert.

Deswegen will die Fraktion auch künftig die Stimme der Gegner und Kritiker von Stuttgart 21 im Gemeinderat bleiben. Man werde die Kritik am Projekt vorbringen, über die unzähligen Schwachstellen und Probleme aufklären und sich dafür einsetzen, den Schaden, die Kosten und die Beeinträchtigungen für die Stadt und die von Baumaßnahmen Betroffenen möglichst klein zu halten, versprechen sie.

Das sagt die CDU

Die Christdemokraten stehen voll hinter S 21: „Das Bahnprojekt Stuttgart 21 ist auf den Weg gebracht. Das ist gut so.“ Die CDU sehe das Bahnprojekt unter verkehrsbezogenen, ökologischen, ökonomischen und städtebaulichen Aspekten seit jeher als überaus sinnvoll an und habe dafür „in durchaus schwierigen Zeiten gekämpft“. Die Stadt profitiert nach ihrer Ansicht ungemein von Stuttgart 21.

Und wenn die sich aus dem Projekt ergebenden städtebaulichen Chancen in der kommenden Zeit noch klarer sichtbar würden, so hofft die Partei, würden sich „noch mehr Menschen dafür begeistern“ und sich über die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in die weitere Planung aktiv einbringen. Während der Bautätigkeiten sei zwar vorübergehend mit Beeinträchtigungen zu rechnen, „aber diese sind zum Glück zeitlich absehbar und machen dann positiven Veränderungen und Entwicklungen im Herzen der Stadt Platz“, so die CDU.

Das sagt die SPD

Die SPD will aus Stuttgart 21 das Beste machen: Sie meint, in acht Jahren würden die Flächen nördlich des Pragfriedhofs nicht mehr für die Baustelle benötigt, und etwas später seien auch die Gleisflächen abgeräumt. „Deshalb ist es höchste Zeit, mit der Planung für das neue Rosensteinviertel zu beginnen“, fordern die Sozialdemokraten. Schließlich entstehe ein neuer Stadtteil in der Größe einer Mittelstadt.

Die SPD will, dass in einem breiten Dialog mit der Bürgerschaft gemeinsame Vorstellungen für das zukünftige Innenstadtareal entwickelt werden. Die Partei legt Wert darauf, dass dort ein lebendiges, interessantes Stadtviertel entsteht, mit höchster Energieeffizienz, sozial gemischtem Wohnen, Integration von Wohnen und Arbeiten und städtischem Flair. Die Stadt als Grundstückseigentümerin könne und müsse dort Grundstückspekulation verhindern.

Das sagen die Freien Wähler

Auch die Freien Wähler betonen, sie hätten Stuttgart 21 immer positiv begleitet. Ein moderner Durchgangsbahnhof hinter dem Bonatz-Bau, so ihre These, werde die Infrastruktur des Schienennah- und Fernverkehrs revolutionieren. Mit zehn Gleisen – zusammen mit der S-Bahn – erhalte Stuttgart einen leistungsstarken Verkehrsknoten. Hinter dem Bahnhof entstehe bereits ein modernes Stadtquartier mit Bibliothek, Geschäftsviertel und Wohngebäuden. Die Wählervereinigung lobt auch die Erweiterung des Schlossgartens, die einen hohen Freizeitwert mit sich bringe. Das im Talkessel liegende Stadtzentrum werde sich deutlich ausdehnen: „Damit fällt die teilende Gleisschneise weg und Stuttgart wächst zusammen.“ Den Bau zu begleiten und dabei immer wachsam zu sein, das will die Fraktion in den nächsten fünf Jahren im Gemeinderat tun.

Das sagt die FDP

Für die Liberalen ist Stuttgart 21 „ das wichtigste Mobilitäts- und Städtebauprojekt der Stadt und der Region im nächsten Jahrzehnt“. Es bringe viele Vorteile für die Region und Baden-Württemberg. Sowohl der Fernverkehr als auch der Nah- und Regionalverkehr werde dadurch verbessert, Flughafen und Messe mit der Schiene erschlossen und somit erheblich aufgewertet. Die FDP stehe zum Bahnprojekt und werden den Fortgang des Projekts konstruktiv und aufmerksam begleiten. Konkret fordert die Partei einen internationalen Wettbewerb zur Gestaltung der frei werdenden Gleisflächen von rund 100 Hektar, die durch S 21 entstehen. Als möglichen Kooperationspartner schlagen sie die die Architektenkammer Baden-Württemberg vor. Anschließend soll nach dem Willen der Liberalen eine Bürgerbeteiligung vorgesehen werden.

Das sagt sie SÖS

Die SÖS meint, dass S 21 die Verkehrspolitik, die Finanzen und die Politik insgesamt in eine falsche Richtung lenkt. In Wahrheit sei das Projekt ein Rückbau der Schieneninfrastruktur. Die Folgen: mehr Verkehr auf der Straße, eine Blockierung des Haushalts über Jahre. Durch Kostenexplosion und „Leistungslüge“ fehle S 21 die Geschäftsgrundlage. Die SÖS werde für die Bürgerbegehren und für den Ausstieg stimmen.

Die Linke fordern weiter einen Baustopp und den Ausstieg aus S 21. Sie begreift sich als Teil der Bürgerbewegung gegen das Bahnprojekt: S 21 baue Bahnhofskapazität ab, beschädige den S-Bahn-Verkehr und amputiere Hauptlinien der Stadtbahn. Die Linke will, dass die Stadt die Grundstückskäufe rückabwickelt und die Finanzierungsverträge kündigt, die Beschlüsse seien durch Täuschung über tatsächliche Kosten und Konsequenzen gefallen.