Die Reste der ehemaligen Bahndirektion an der Heilbronner Straße ruhen nun auf 250 Pfählen. Darunter entstehen in einem aufwendigen Verfahren Tunnel für Stuttgart 21.
Stuttgart - Eine kühle, bei den aktuellen Außentemperaturen angenehme Brise weht durchs Untergeschoss der ehemaligen Bahndirektion zwischen der Jäger- und der Heilbronner Straße. Dass das denkmalgeschützte Gebäude derzeit untenrum keine Außenwände hat, begünstigt den Durchzug. Um Platz für Stuttgart-21-Tunnel zu schaffen, musste aus dem fünfgeschossigen Haus ein Pfahlbau werden – zumindest vorübergehend.
Der Bau mit der imposanten, dem Bahnhof zugewandten Fassade steht zu zwei Dritteln seiner Länge auf sogenannten Mikrobohrpfählen. Diese 250 Stützen haben je einen Durchmesser von 40 Zentimetern und reichen zwischen sechs und acht Meter tief ins Erdreich. Wo sie auf die alte Bausubstanz der Bahndirektion treffen, ist die Erde aber abgetragen. Dazu war in den vergangenen Monaten ein kleiner Bagger im Kellergeschoss tätig, den Abraum hat ein großer Sauger aus dem Keller befördert.
Das Gebäude wiegt 15 000 Tonnen
Baustellenbesucher können nun unter dem Gebäude hindurchsehen – und das in voller Breite. Der freie Durchblick wird lediglich vom Wald der 250 Pfähle leicht eingeschränkt. Dort, wo nun Michael Pradel, Chef des zentralen Bauabschnitts von Stuttgart 21, steht und die fürs Laienauge gewagt anmutende Konstruktion erläutert, bilden demnächst 4500 Kubikmeter Beton eine anderthalb Meter dicke Bodenplatte. Sie wird zu allen Seiten über den Grundriss der Bahndirektion hinausragen. Die Platte lagert auf leistungsfähigen Hydraulikpressen, die ihrerseits auf zuvor ins Erdreich getriebenen Pfählen stehen . Sie halten das gesamte Gebäude, das immerhin gut 15 000 Tonnen auf die Waage bringt. Entlang der Mikrobohrpfähle im Inneren des Kellergeschosses geht es dann weiter abwärts. Bis zu acht Meter tief graben die S-21-Bauer unter der Bodenplatte in die Tiefe – bis sie dort auf den bereits von den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) neu erstellten Stadtbahntunnel stoßen, der zwischen Hauptbahnhof und der Haltestelle Handwerkskammer verläuft und zudem einen neuen Abzweig ins Europaviertel ermöglicht.
Einmal dort angekommen, würden die Bohrpfähle nur stören. „Da kommt dann ein Bagger und knipst sie ab“, sagt Pradel lakonisch. Der denkmalgeschützte Bau ruht dann nur noch auf den 36 Großbohrpfählen, jeder für sich ist 1,2 Meter stark. Damit die Seiten nicht nachrutschen, haben die Bauarbeiter zuvor keilförmig Beton in den Untergrund gepresst. „Das ist wie das Herstellen eines künstlichen Felsens“, erklärt Michael Pradel.
Eisenbahntunnel werden auf die Stadtbahntunnel gebaut
Auf die Decke der SSB-Röhren legen die S-21-Bauer dann die Bodenplatte ihres Tunnels. In dem Tunnel verlaufen die aus dem Kriegsberg herauskommenden Gleise Richtung Bahnhofstrog. Wenn das erledigt ist, wird der Spalt zwischen Eisenbahntunnel und Unterkante der Bodenplatte verfüllt – und anschließend das Gebäude seinem neuen Besitzer übergeben. Im Juni hatte sich der Stuttgarter Projektentwickler W2 Development das Gebäude nebst frei geräumtem Grundstück zur Jägerstraße hin gesichert.
50 Millionen Euro kostet der Erhalt des Gebäudes
50 Millionen Euro investiert die Bahn in die sogenannte Unterfangung des Gebäudes, das auch schon mal Interimsrathaus gewesen ist. Michael Pradel deutet immer wieder an, dass ihm auch ein anderer Verwendungszweck für diese Summe eingefallen wäre. Aber einen Abriss des Gebäudes, das sich vorübergehend unter dem Label H 7 in der Zwischennutzungsszene und als Heimstatt des Clubs Rocker 33 einer gewissen Beliebtheit erfreute, wollte die Stadt nicht mittragen. Insbesondere der damalige Baubürgermeister Matthias Hahn (SPD) machte sich für den Erhalt stark, als die Bahn während des Planungsprozesses laut über einen Komplettabriss nachdachte. Nun wird der Tunnel eben aufwendig unter die schwebende Bahndirektion gebaut.
Geregelt ist der Umgang mit dem Gebäude auch in der Baugenehmigung des zentralen Abschnitts von Stuttgart 21. „Der Teilerhalt des Gebäudes ist jedoch technisch möglich, wenn auch mit erheblichem bautechnischem und finanziellem Aufwand, so dass es der Vorhabenträgerin zuzumuten ist, das Stadtbild prägende Hauptgebäude des Bahndirektionsgebäudes zu erhalten“, heißt es in dem im Januar 2005 erlassenen Beschluss des Eisenbahn-Bundesamtes.
Vermessungsgeräte überwachen das Gebäude
Dass dieser Erhalt ohne größere Schäden am Gebäude erfolgt, darüber wachen laufend mehrere automatisierte Vermessungsgeräte. „Wenige Millimeter“ habe der Komplex sich bewegt, sagt Pradel. Erlaubt gewesen wären sogar bis zu fünf Zentimeter. In den über dem Keller liegenden Geschossen blieb weitestgehend alles beim Alten. Lediglich einige Wände habe man mit einem sogenannten Erdbebenputz verstärkt. Durchs Erdgeschoss laufen vorübergehend Fernwärme- und Elektroleitungen, die dem Tiefbau rund ums Gebäude haben weichen müssen.
Während die Gebäudeflügel sowie der rückwärtige Trakt längs der Jägerstraße unwiederbringlich abgerissen sind, ist der dem Hauptbahnhof zugewandte Portikus des Haupteingangs demontiert. Er lagert zerlegt und geschützt unter dem im Rohbau bereits fertiggestellten Sulzbachviadukt bei Denkendorf im Kreis Esslingen. Wenn die Tunnelbauer abgerückt sind, wird der stattliche Vorbau wieder an seinen alten Platz gebracht.
Die Bahndirektion war Vorbote eines neuen Bahnhofsviertels
Die Bahndirektion war bei ihrer Entstehung in den Jahren 1911 und 1912 ein Vorbote der Umgestaltung des Bahnknotens Stuttgart Anfang des 20. Jahrhunderts. Die alte Station an der damaligen Schloßstraße, der heutigen Bolzstraße, war zu klein geworden, ein neuer Bahnhof musste her. Noch ehe klar war, wie der aussehen sollte, entstand in seiner unmittelbaren Umgebung das „Verwaltungsgebäude der Generaldirektion der Königlich Württembergischen Staatseisenbahn“ nach den Plänen des Königlichen Baurats Martin Mayer. Das „Zentralblatt der Bauverwaltung“ lobte in seiner Ausgabe vom 17. Oktober 1914, dass Mayers Bau erst gar nicht den Versuch unternehme, dem künftigen Hauptbahnhof „seine natürliche Bedeutung als wichtigstes Bauwerk des Platzes streitig zu machen“. Gleichwohl bringe das Direktionsgebäude „vor allem in seiner Hauptfront durch edlen Baustoff und bildnerischen Schmuck Würde und Ansehen zum Ausdruck“. Und das Areal rund um den alten Bahnhof? Dazu schreibt das Blatt vor mehr als 100 Jahren einen Satz, der auch in heutigen Stuttgarter Ohren nicht gänzlich fremd klingt. Dort würden „eine Reihe von Staatsgebäuden frei, die in kurzer Zeit niedergelegt sein werden, um Hotelneubauten und Geschäftshäusern Platz zu machen“.