"Kathedrale des Fortschritts“ oder „menschliche Selbstherrlichkeit“: Befürworter und Gegner sind in ihren Glaubensbekenntnissen unerbittlich. Ein Essay.

Stuttgart - Wer kennt sie nicht, die berühmte Geschichte aus dem Lukasevangelium, die an Weihnachten wieder von allen Kanzeln schallt und vom Kommen Jesu in die Welt kündet? "Es begab sich aber zu der Zeit" - diese Geschichte ist so stark und unnachahmlich und völkerverbindend, dass es unter normalen Umständen vermessen erscheint, sie an den Beginn eines Stücks über Stuttgart 21 zu stellen. Aber sind die Umstände in Stuttgart noch normal?

 

Sind sie nicht! Der Streit über den Tiefbahnhof hat Züge eines Glaubenskriegs angenommen. Menschen würdigen einander persönlich herab. Theologen schließen sich zusammen und setzen in ihrem Widerstand gegen die Umbaupläne auf die Sprengkraft der Heiligen Schrift: "Stuttgart 21 ist ein Projekt menschlicher Überheblichkeit. Das Gebot, Gottes Schöpfung zu bebauen und zu bewahren (1.Mose 2,15), schließt menschliche Selbstherrlichkeit aus." Dazu passen Massengelöbnisse wie bei einer der Montagsdemonstrationen in Stuttgart: "Wir geloben, den Park zu schützen, jeden Baum. Wir geloben, wir vergessen euch nicht, CDU, FDP, SPD, bei jeder demokratischen Gelegenheit."

Was ist passiert in dieser einst so nächstenlieben Stadt, in der es neuerdings nur noch zwei Bevölkerungsgruppen zu geben scheint: S-21-Befürworter und S-21-Gegner? Jeder glaubt, die höhere Moral für sich gepachtet zu haben. In und um Stuttgart traut man sich kaum noch, das leidige Thema bei Festen oder Geburtstagen anzusprechen, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Leute wütend auseinandergehen. Man hört sich oft nicht einmal mehr zu, sondern geht gleich ins Grundsätzliche. Einige zerstören die Plakate der anderen, schreiben gemeine Briefe, bezichtigen einander der Lüge, zeigen sich an oder sprechen anonyme Morddrohungen aus, was dazu führt, dass sich Amts- und Würdenträger in dieser Stadt nur noch in Begleitung von Bodyguards zu öffentlichen Terminen trauen.

Der Bahnhof steht für so vieles

Das Ganze spitzt sich vor der Volksabstimmung noch zu, die man fast schon herbeisehnt, damit endlich ein bisschen Druck aus dem winterlichen Talkessel entweicht. Dabei votieren die Baden-Württemberger am Sonntag nur über die Mitfinanzierung des Landes an einem im Bau befindlichen Bahnknoten. Es geht um die Frage, ob die Zugstation in der Landeshauptstadt entweder fürs Erste weitgehend bleibt, wie sie ist, oder aber modernisiert und unter die Erde gelegt wird. Nicht um den Auslandseinsatz deutscher Soldaten geht es, nicht um den Bau eines Atomendlagers, nicht um den fehlenden Zugang zu Trinkwasser für Milliarden von Menschen in der Dritten Welt, nicht um den Wandel des Klimas. Um einen Bahnhof geht es.

Aus der Stuttgarter Binnensicht hat dieser Bahnhof längst seine eigene Dimension. Er steht für so vieles. Für Risiken ebenso wie für Chancen, für Tradition ebenso wie für Moderne, für schlagende Polizisten ebenso wie für randalierende Chaoten, für Baustellendreck ebenso wie für Bauaufträge. In den neunziger Jahren, als die Pläne geboren wurden, war das noch anders. Viele schwärmten von einer kühnen Vision, und die Schar der Kritiker war überschaubar. Schon damals gab es die Neigung zur Überhöhung. Der alte Stuttgarter Bahnhof, so frohlockten berauschte Planer, verwandle sich in eine "Kathedrale des Fortschritts". Wer sich selbst in den Himmel lobt, fällt umso tiefer.

Für die Befürworter wurde Stuttgart 21 gebetsmühlenhaft zum Sinnbild für Wachstum und Wohlstand. Umgekehrt proportional wuchs die Skepsis der Gegner, welche die Scheinheiligkeit des Milliardengrabs geißelten und ihrerseits die Bewahrung des Bewährten priesen. Für sich genommen wäre das noch kein Problem. Meinungen bilden sich und sind folglich schlauer, als man denkt. In Stuttgart aber fällt die Meinungsbildung bei diesem Thema besonders schwer. Nicht nur das Volk, sondern auch die Regierenden selbst sind im Bahnhofsstreit heillos zerrissen. Dieser Umstand manifestiert sich nicht zuletzt in der offiziellen Informationsbroschüre zur Volksabstimmung, die im Land an alle Haushalte geschickt worden ist. Die Grünen sagen darin so, und die Roten sagen so, und Grün-Rot sagt so und so. Die einen beziffern die möglichen Ausstiegskosten auf 350 Millionen Euro, die anderen gehen von 1,5 Milliarden aus. Im Prinzip ist alles möglich und auch das Gegenteil von allem.

Die Politik schreitet mit schlechtem Beispiel voran

Ein "neues Kapitel der Demokratie" kündigt die Regierung in ihrer Hauspostille zur Volksabstimmung an. Ein neues Kapitel? In Wirklichkeit schreitet die Politik mit schlechtem Beispiel voran. Wenn es um Stuttgart 21 geht, fahren sich die Koalitionäre seit Monaten reflexartig in die Parade. Wird hier ein Papier präsentiert, wird es dort postwendend zerpflückt. Dabei hatten doch Zigtausend Wähler ihr Kreuz für eine hoffnungsvollere Politik gemacht.

Nun haben das Wählerkreuz und das Jesuskreuz eigentlich nicht allzu viel gemein, aber bei diesem Bahnhofsstreit ist fast nichts unmöglich. Zu den Wirren trägt der Umstand bei, dass Menschen, von denen man annehmen darf, dass sie im guten Glauben handeln, plötzlich im allzu guten Glauben handeln. Statt die Kirche im Dorf zu lassen, schreiben projektkritische Theologinnen und Theologen in einer gemeinsamen Erklärung auf ihrer Internetplattform: "Stuttgart 21 geht fahrlässig mit der Schöpfung um. Durch die biblische Überlieferung von der Schöpfung, durch die darin enthaltene Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit sehen wir uns in der Verantwortung, zu Schutz und Pflege der Schöpfung aktiv beizutragen. Für Stuttgart 21 werden zahlreiche wertvolle alte Bäume gefällt. Im Gegenzug wird aber keineswegs der Bahnverkehr so verbessert, dass ein derartiger Eingriff in die Natur vertretbar wäre." Selbstverständlich gibt es nicht nur Gottesdiener, die gegen Stuttgart 21 wären, sondern auch solche, die allzu leidenschaftlich dafür kämpfen. Zu ihnen gehört Johannes Bräuchle. Der evangelische Pfarrer ließ sich neulich bei einem Wirtshausauftritt über die Andersdenkenden wortreich aus und stellte dabei einen unsäglichen Nazivergleich an. Die Landeskirche suspendierte den Hirten umgehend, und Bräuchle musste sein Vorstandsamt im Verein Pro Stuttgart 21 niederlegen.

So sehr man auch schaut: In der Bibel findet sich keine hinreichende Weisung für oben bleiben oder unten bauen. Lesenswert ist sie trotzdem. Sie hilft einem, den Weg zu finden, und manchmal macht sie Verblendete wieder sehend. Das würde man sich wünschen auch und gerade im Streit um diese Zugstation. Der ehrenamtlich tätige Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm, Wolfgang Dietrich, hat in dieser Woche einen Brief erhalten, in dem ihm ein Unbekannter "bittere Konsequenzen" androht, falls er den Job weiter macht. Wenn der Adressat nicht mehr damit rechne, so heißt es in dem Schreiben, "werde ich vor dir stehen und dir dein dickes Fell über die Ohren ziehen. Diesen Satz darfst du wörtlich nehmen. Deine einzige Chance, diese Begegnung mit mir zu vermeiden, ist deine öffentliche Erklärung noch vor dem Volksentscheid, dich mit sofortiger Wirkung vom Projekt Stuttgart 21 zu distanzieren."

Werden die Eiferer besonnener?

Quo vadis Stuttgart? Wird es nach der Volksabstimmung besser? Werden die Eiferer besonnener? Werden Staatsanwälte weniger Beleidigungsanzeigen auf ihren Tischen vorfinden? Werden die beispiellos überspannten Kampagnen im Internet und über Facebook mit teilweise übler persönlicher Verunglimpfung aufhören? Dafür braucht es Brückenbauer in beiden Lagern, auch und gerade in der Politik. Ministerpräsident Winfried Kretschmann könnte einer sein, der nach dem sonntäglichen Urnengang versöhnt und den Konflikt befriedet, selbst auf die Gefahr hin, dass er in den eigenen Reihen dafür nur mäßigen Applaus erntet. Auf längere Sicht hält weder eine Gesellschaft noch eine Koalition solche Spannungen aus. Auf Dauer ist es nicht gut, wenn Menschen im Streit auf die höchsten Bäume der Moral klettern und von dort auf die anderen herabschauen.

Heiner Geißler, der Schlichter, hat, lange bevor er die Widersacher in Stuttgart zur Mäßigung rief, ein kluges Buch über die politische Botschaft des Evangeliums geschrieben: "Was würde Jesus heute sagen?" Frei von Dogmatismus zitiert er darin den Ersten Brief des Johannes: "Wenn jemand sagt, ich liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, dann ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht?" Die ganze Gottesliebe sei nichts wert, fügte Heiner Geißler hinzu, "wenn sie nicht begleitet wird von der Nächstenliebe".

Der heftige Protest gegen Stuttgart 21 hat viel Gutes bewirkt. Manches ist in Bewegung gekommen. Mauscheln ist jetzt nicht mehr so leicht unter den Mächtigen. Das Volk mischt sich ein, redet mit, hinterfragt. Das macht die Demokratie lebendiger, solange nicht versucht wird, das Ganze theologisch aufzuladen. Es wird Zeit, dass sich Gegner und Befürworter nicht mehr wechselseitig in die siebte Fürbitte des Vaterunser einschließen. "Und erlöse uns von dem Übel." So übel sind die anderen meist gar nicht, wenn man sie erst besser kennt.