Die grün-rote Landesregierung leidet zunehmend unter der Verengung der Regierungsarbeit auf das Bahnprojekt. Die Nervosität steigt.

Stuttgart - Es ist ein Versuch, ein zaghafter zwar, aber immerhin. Gabriele Warminski-Leitheußer, die Kultusminsterin von der SPD, hat am Donnerstag ein Papier zum Bildungsaufbruch in der Schulpolitik unter die Leute gebracht: Abschaffung der Grundschulempfehlung, neunjähriges Gymnasium für alle, denen es in acht Jahren zu schnell geht, Gemeinschaftsschule. Alles publikumsnahe Projekte, für die Grün-Rot bei der Landtagswahl im März gewählt wurde - und die außerdem den Charme haben, dass die beiden Regierungsparteien dabei an einem Strang ziehen. Das Beste daran aber ist: sie haben nichts, aber auch gar nichts mit Stuttgart 21 zu tun.

 

Es gibt nicht wenige Koalitionspolitiker, die verziehen bei Nennung von Stuttgart 21 das Gesicht wie nach einem unverhofften Biss auf den Stein einer Kirsche, von der sie angenommen hatten, sie sei entkernt. Zumal bei den Grünen sind solche physiognomischen Entgleisungen häufiger zu beobachten. Inzwischen hat sich in der Partei herumgesprochen, dass Stuttgart 21 kaum mehr zum Gewinnerthema taugt. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens werden die Grünen unabhängig vom Ausgang des Konflikts ihre Unschuld verloren haben. Müssen sie Stuttgart 21 bauen, ist es für sich misslich. Können sie es verhindern, stehen sie erst einmal mit leeren Händen und einer teuren Rechnung der Bahn da. Regierungen werden daran gemessen, was sie hinbekommen, weniger daran, was sie verhindern.

Auch Kretschmann könnte ohne das Thema leben

Zweitens leidet die Koalition unter der thematischen Verengung auf das Projekt. "Stuttgart 21 überdeckt alles andere", sagt ein Regierungsvertreter der Grünen. Das Thema bindet Personal, Geist und Zeit. Außerdem strapaziert es die Nerven. Selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann verhehlt nicht, dass ihn der Konflikt schlaucht. Neuerdings macht er auch Fehler - wie am Dienstag, als er unvermittelt, jedenfalls ohne Absprache mit der SPD davon sprach, das Land könne sich finanziell an einem Baustopp beteiligen. Damit holte er sich prompt eine Abfuhr vom Koalitionspartner. Solche Niederlagen erspart sich ein Regierungschef. Kretschmann könnte ganz gut ohne das Thema Stuttgart 21 leben. Aber beschweren darf er sich auch nicht, hat er doch immer gesagt, Politiker seien dazu da, Probleme zu lösen; wo es keine Probleme gebe, bedürfe es auch keiner Politiker.

Drittens schlägt Stuttgart 21 aufs Koalitionsklima. Am Montagabend widmete sich das Kabinett eigens dem ungeliebten Thema, in "konstruktiver Atmosphäre", wie es hernach hieß, "professionell, die Gemeinsamkeiten betonend". Man vereinbarte an jenem Abend, den 14. Juli als Tag der Präsentation des Stresstests beizubehalten. Danach könne es bis zum Beginn der Sommerpause noch eine Bewertungsphase geben. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel formulierte: "Unbeachtet der Unterrichtung der Öffentlichkeit soll in angemessenem Abstand eine öffentliche Diskussionsrunde über das Urteil von SMA stattfinden." Nun hat sich der Termin verschoben.

"Ich sehe bei den Grünen keine Strategie"

Außerdem wollen Regierungspolitiker der Grünen von Bahn-Technikvorstand Volker Kefer erfahren haben, dass die Bahn möglicherweise doch auf eine Auftragsvergabe am 15. Juli verzichten wollen. Das sei möglich, so heißt es in der Regierung, sofern die beteiligten Unternehmen ihr schriftliches Einverständnis für einen Aufschub erklärten. Auch Regierungschef Kretschmann äußerte sich in diesem Sinne. "Wenn ich Herrn Kefer richtig verstanden habe, ist da Luft drin", sagte er. Von der Bahn wurde das jedoch nicht bestätigt. Ohnehin ist in diesen Tagen nicht immer sicher nachvollziehbar, wer das Was mit wem über Stuttgart 21 besprochen hat. Grüne und Rote versuchen, Emotionen und Aversionen unter Kontrolle zu halten. Lange genug haben sie darauf hingearbeitet, die CDU vom Regierungsthron zu stoßen und selbst die Futtertröge der Macht zu erreichen.

Doch die Unruhe wächst auch in der SPD, die mit Finanzstaatssekretär Ingo Rust im Lenkungsausschuss zu Stuttgart 21 vertreten ist. "Ich sehe bei den Grünen keine Strategie", sagt ein SPD-Mann. Diese Aussage spiegelt die Beobachtung wider, dass ein Teil der Grünen dabei ist, sich mit Stuttgart 21 abzufinden und über einen Ausstieg aus dem Ausstieg nachdenkt, während ein anderer Teil noch dagegen kämpft.

Hermann wird um Zurückhaltung gebeten

Besonders das Tun von Verkehrsminister Winfried Hermann wird in der SPD argwöhnisch beäugt. "Der spielt falsch", sagt ein Genosse. "Das ist gefährlich für die Situation in der Koalition." Hermann, so lautet der Vorwurf, wecke in der Protestszene am Bahnhof immer wieder Erwartungen, welche die Regierung nicht erfüllen könne. Außerdem habe er bei der Bahn "verbrannte Erde" hinterlassen, was den Handlungsspielraum der Landesregierung einenge. Gestern erregte in der SPD das Gerücht Aufregung, Hermann habe mit Schlichter Heiner Geißler über eine Verschiebung der Präsentation des Stresstests um eine Woche gesprochen. Das Verkehrsministerium sagte, man wisse von nichts.

Das Staatsministerium hat den Verkehrsminister zu Zurückhaltung in den öffentlichen Äußerungen angehalten. "Dass der Hermann einen Bogen um Mikrofone macht, das ist neu", heißt es in den eigenen Reihen.

So schnell kommt Grün-Rot aus der thematischen Engführung nicht heraus. Details der Reform der Grundbuchämter, die Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) dieser Tage verkündete, werden Grün-Rot nicht in die Offensive bringen.

Hintergrund: Grüne und SPD wollen Volksabstimmungen erleichtern

Quorum Die grün-rote Landesregierung hat einen Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht, der das Zustimmungsquorum absenken soll. Bislang müssen ein Drittel aller stimmberechtigten Bürger bei einer Volksabstimmung zustimmen, um einem Gesetzentwurf zum Erfolg zu verhelfen. Die Hürde solle nun auf ein Fünftel der Stimmberechtigten abgesenkt werden, teilten Grüne und SPD am Donnerstag mit.

Verfassung Zu einer Änderung der baden-württembergischen Verfassung ist eine Zweidrittelmehrheit im Landtag notwendig. Eine CDU-Sprecherin sagte, die Union sei für mehr Bürgerbeteiligung, man wolle aber nicht den Steigbügelhalter für den Ausstieg aus Stuttgart 21 spielen. Dagegen signalisierte die FDP, der Absenkung des Quorums zustimmen zu wollen.