Ein Arbeitskreis kritischer Juristen will nachweisen, dass Stuttgart 21 jahrelang schöngerechnet und Kosten verschwiegen wurden.

Stuttgart - In der Geometrie beschreibt die Kreiszahl Pi das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser; bei Stuttgart 21 beschreibt sie das Verhältnis der Bahn zur Wahrheit. Wie weit es damit her ist, hat sich in der Schlichtungsverhandlung gezeigt. Der freundliche Bahn-Technikvorstand Volker Kefer marginalisierte in einer Beispielrechnung Tunnelkosten für die Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm, indem er die Konstante von 3,142 auf 3,0 kürzte und so den Aufwand für den Tunnelausbruch um 63 Millionen Euro reduzierte. Mit einem um 25 Prozent zu geringen Tunnelquerschnitt hat er weitergerechnet, und schon war das Projekt - Pi mal Daumen eben - zum Spottpreis zu haben.

 

Kefer hat sich damit keine Freunde gemacht: Der Widerstand hat zugenommen - längst nicht mehr nur im Aktionsbündnis oder bei den Parkschützern. Immer mehr Vertreter von Berufsständen, die mit dem Projekt zu tun haben, recherchieren, analysieren und informieren. Neben Architekten und Ingenieuren ist es vor allem der dreißig Mitglieder starke "unabhängige und überparteiliche Arbeitskreis Juristen zu Stuttgart 21", der von sich reden macht. Diese Gruppe von Rechtsanwälten und ehemaligen Richtern ist auch an der Vorbereitung des Bürgerentscheids beteiligt gewesen, für den am Montag die Unterschriften abgegeben wurden. Sie vertritt die Ansicht, dass Stadt und Land die Rechtsgrundlage fehlen, um Aufgaben des Bundes zu finanzieren.

Finanzierung basiert auf unkonkreter und überholter Vorplanung

Und es drängt sie nachzuweisen, dass die Bahn die wahren Projektkosten verschleiert habe, und die Parlamentarier folglich vor der entscheidenden Finanzierungsvereinbarung am 1. April 2009 systematisch und arglistig über die wahren Beträge getäuscht worden seien. Deshalb ziehen die Juristen um den Stuttgarter Rechtsanwalt Bernhard Ludwig die demokratische Legitimation des Projekts in Zweifel. Dass Abgeordnete der Befürworterparteien CDU, SPD und FDP deutlich artikulierten, nicht an Aufklärung interessiert zu sein, animiert den Kreis zu weiteren Recherchen. Außerdem fordert er Vertreter der Projektgegner auf, in ihren Gremien der Frage nachzugehen, welche Fakten zu welchem Zeitpunkt bekannt und welche ihnen vorenthalten worden waren.

Dazu sollten sie bis ins Jahr 2007 zurückgehen. Im Juli war in Berlin die Grundsatzvereinbarung ("Memorandum of Understanding") über die Finanzierung von 2,8 Milliarden Euro Gesamtkosten auf einer reichlich unkonkreten Vorplanung aus dem Jahre 2004 erstellt worden. Diese war zum Zeitpunkt der Unterzeichnung schon deshalb überholt, weil seitdem vier Planabschnitte genehmigt worden waren. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse hätten auf jeden Fall eine differenzierte Betrachtung der Kosten ermöglicht. Obwohl darauf verzichtet worden war, behauptete Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster später, die detaillierte Kostenrechnung sei auf Basis der "ausgearbeiteten und rechtskräftigen Pläne für S21" vorgenommen worden. 

Stetige Kostensteigerungen des Projekts

Das war seine Antwort auf die vielbeachtete Prophezeiung der von den Projektgegnern beauftragten Gutachter Vieregg & Rößler vom Juli 2008, die Kosten könnten von 2,8 auf bis zu acht Milliarden Euro steigen. Das passte nicht zur Aussage der Befürworter, Stuttgart 21 sei "eines der am besten geplanten Projekte der Bahn". Weil das alle glauben sollten, war zu diesem Zeitpunkt der beschlossene Risikofonds über 1,3 Milliarden Euro nicht mehr als eine überdimensionierte Sicherungsmaßnahme - die Hosenträger zum Gürtel sozusagen.

Es blieb dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger nur wenig Zeit, die Prognosen der Gegner als "Horrorzahlen" zu kritisieren, denn schon vier Wochen nach dem Auftritt von Vieregg & Rößler musste er einräumen, "inflationsbedingte Kostensteigerungen" unberücksichtigt gelassen zu haben. Auf den überholten Preisstand von 2004 wurden noch einmal 266 Millionen Euro draufgesattelt. 3,076 Milliarden Euro sei "ein guter Wert, der genügend Vorsorge trifft", sagte Bahn-Manager Oliver Kraft. Und der SPD-Abgeordnete Wolfgang Drexler befand: "Es sind keine Überraschungen mehr zu befürchten."

Bereits 2008 mehr als 50 Prozent über dem veranschlagten Betrag

Diese Prognose hat sich dank der Juristen zu Stuttgart 21 als unhaltbar erwiesen. Sie fanden nach der Schlichtung Anfang dieses Jahres in Schriftstücken Anhaltspunkte, die die Finanzierungsvereinbarung vom 1. April 2009 in ein schiefes Licht rückten. Unterlagen der beauftragten Wirtschaftsprüfer belegen nämlich, dass der Bahn bereits Ende 2008/Anfang 2009 - also einige Monate vor Abschluss der Vereinbarung - "fertiggestellte" Schätzungen ihrer Fachplaner von immerhin 3,9271 Milliarden Euro vorgelegen hätten. Und dabei handelte es sich nur um die Baukosten. Inklusive unstrittiger Planungsaufwendungen von 547,1 Millionen Euro und des Inflationsausgleichs von 322,5 Millionen Euro, belief sich der Gesamtbetrag für Stuttgart 21 vor der Zeremonie demnach auf 4,8 Milliarden Euro - das waren mehr als 50 Prozent über dem veranschlagten Betrag. Aber es kam noch schlimmer.

Die Schätzung der Fachplaner wurde vom Projektsteuerer Drees & Sommer im Sommer sogar auf fünf Milliarden Euro erhöht. Hätte die Bahn damals nicht schnell die bis dahin angefallenen Planungskosten (186 Millionen) "vollständig aus Eigenmitteln", also außerhalb des Projekts finanziert, wären es sogar 5,2 Milliarden gewesen. Aus Sicht der Juristen zu Stuttgart 21 steht fest: Wäre dies rechtzeitig öffentlich geworden, hätte es keine Finanzierungsvereinbarung geben, in der zwar eine Aktualisierung nach Abschluss der Entwurfsplanung vereinbart wurde, in der es in Paragraf 2 aber grundsätzlich heißt: "Die Kosten betragen (.. .) unter Berücksichtigung vor allem der zu erwartenden Preis- und Lohnsteigerungen rund 3,076 Milliarden Euro." 

Risikofonds allein zur Aktualisierung längst überholter Pläne

Beschlossen wurde, einen Risikotopf mit 1,45 Milliarden Euro für Mehrkosten zu füllen - jedoch für solche, die sich aus Preissteigerungen oder technischen Risiken ergeben könnten. Eine Erhöhung um mehr als eine Milliarde Euro wurde zudem für "unwahrscheinlich" erklärt. Dass diese Vorsorge tatsächlich nicht nur für Unvorhersehbares erforderlich würde, sondern vor allem, um die Erhöhung zu finanzieren, die sich bereits aus der Aktualisierung längst überholter Pläne bereits ergeben hatte, blieb im Parlament unerwähnt.

Nach Ansicht des Arbeitskreises hätten aber alle Entscheidungsträger sofort über die Kostenschätzung der Fachplaner informiert werden müssen. Schließlich war damit die vereinbarte Schmerzgrenze von 4,526 Milliarden Euro überschritten. Dass man seinen Partner solche Infos nicht vorenthalten darf, ergibt sich für die Experten aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch.

Die Bahn dementiert gar nicht, Anhaltspunkte für höhere Kosten gehabt zu haben. Ihr Schweigen begründet sie damit, es habe sich um einen "Zwischenstand vor Abschluss der Nachkalkulation" gehandelt; die auf Basis der Entwurfsplanung ermittelten Kosten habe sie erst bis zum Ende der Ausstiegsfrist Ende 2009 vorlegen müssen. Außer Acht wird gelassen, dass die Schätzung von 3,9 Milliarden Euro Kosten die bis dahin aktuellste und verlässlichste war.

Noch immer drohen unvorhersehbare Nachbesserungen

Warum hat die Landesregierung nicht vorsorglich nachgefragt, da ihr doch die Haushaltsordnung auferlegt, Baukosten auf Grundlage aktueller Pläne zu ermitteln? Auf eine Grünen-Anfrage behauptete sie kürzlich, ihr sei kein "jüngerer Planungs- und Preisstand" bekannt gewesen. Gleichzeitig wusste sie aber, dass "die alte Planung und Kostenermittlung der Fortschreibung bedurfte". Der gemeine Parlamentarier wurde dagegen im Glauben gelassen, die Fortschreibung sei längst beendet. So ist zu erklären, dass der CDU-Abgeordnete Winfried Scheuermann nach der Entscheidung im April frohlockte, er kenne keine Maßnahme, "bei der beim Abschluss der Planungen Mehrkosten von 47 Prozent der prognostizierten Kosten geregelt sind". Auch der damalige Staatssekretär im Verkehrsministerium, Rudolf Köberle, erschien ahnungslos: Er sagte im Ausschuss, es gebe "keinen Anlass für Befürchtungen, dass Vorentwurfsplanung und Entwurfsplanung hinsichtlich der prognostizierten Kosten auseinanderliefen".

Aus heutiger Sicht betrachtet sei alles korrekt gelaufen, beteuern Bahn- und Ministeriumssprecher. Man habe schließlich auf die 5-Milliarden-Schockmeldung der Projektsteuerer mit der Suche nach "Einsparpotenzialen" und "Chancen aus der Optimierung von Bauwerken" begonnen und noch rechtzeitig eine Kostensenkung auf vier Milliarden Euro erreicht, so dass 450 Millionen Euro im Risikotopf verblieben. Es gibt auch eine andere Sicht der Dinge: Vier Milliarden Euro sind immer noch eine Milliarde mehr, als vereinbart wurden. Zudem sind bei dieser Betrachtung nur die Chancen berücksichtigt. Aber noch immer sind nicht alle Sparvorschläge beim Eisenbahnbundesamt angemeldet. Zudem drohen als Folge des Schlichterspruchs teure unvorhersehbare Nachbesserungen.

Auch deshalb hält es der Juristenarbeitskreis für unzulässig, dass das Vesper schon vor Marschbeginn verzehrt wurde. Den Risikofonds für Unwägbarkeiten einfach den Baukosten zuzurechnen, sei aber auch so nie geplant gewesen. Das belegten die Verpflichtungsermächtigungen des Landes, die teils Zuschüsse an die Bahn beträfen, teils aber nur "Bürgschaften, Garantien und sonstige Gewährleistungen". Am deutlichsten hat nach Ansicht der Stuttgart-21-Kritiker aber die Stadt den "Missbrauch des Risikopuffers" dokumentiert: Sie trennt sauber zwischen tatsächlichen Baukosten und eventuellen Verbindlichkeiten.