Der Gemeinderat entscheidet am Donnerstagnachmittag über zwei Bürgerbegehren, die auf einen Ausstieg der Stadt aus dem S21-Finanzierungsvertrag abheben. Die Initiatoren werfen dem Gutachter der Stadt Versäumnisse und Fehler vor.

Stuttgart - Der Gemeinderat entscheidet am Donnerstag (Sitzungsbeginn 16.30 Uhr, Großer Sitzungssaal) im Stuttgarter Rathaus über den Antrag auf Zulassung zweier Bürgerbegehren von Ende 2014 und März 2015 zum „Ausstieg der Stadt Stuttgart aus Stuttgart 21“. Einmal begründen die Initiatoren und rund 20 000 Bürger ihre Forderung mit den Kostensteigerungen gegenüber dem Finanzierungsvertrag von 2009 in einer Höhe von 2,3 Milliarden Euro (von 4,5 auf 6,8 Milliarden Euro). Das aktuellere Bürgerbegehren mit identischer Beteiligung unterstellt einen Leistungsrückbau – im heutigen Kopfbahnhof könnten mehr Züge in der entscheidenden morgendlichen Spitzenstunde abgewickelt werden als im geplanten Tiefbahnhof; für Stuttgart 21 sei zudem eine Leistungssteigerung von 50 Prozent vereinbart worden, die schon gleich gar nicht erfüllt werden könnte.

 

OB Kuhn beantragt, die Bürgerbegehren abzuweisen

Der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats hat am Mittwoch das Bürgerbegehren „Storno 21“ von Ende 2014 bereits gegen die Stimmen von SÖS-Linke-Plus und einer Enthaltung der AfD abgelehnt. Nach den Wortmeldungen über den zweiten Antrag in dieser Sitzung droht auch diesem die Ablehnung. Die Beschlussvorlage von OB Fritz Kuhn (Grüne), der die Zurückweisung des Bürgerbegehrens und die Feststellung dessen Unzulässigkeit beantragt, gründet allein auf einem Gutachten des Rechtsanwalts Christian Kirchberg. Kuhn hatte mit seiner Stimme dafür gesorgt, dass die Vertrauensleute des Bürgerbegehrens kein Rederecht erhalten. Er stimmte damit gegen die Grünen-Fraktion. Sein Vorgänger Wolfgang Schuster hatte in einer vergleichbaren Situation die Vertrauensleute angehört.

Der städtische Gutachter Kirchberg kam - wie auch beim vorigen Antrag – zum Schluss, es lägen keine „konkreten Anhaltspunkte“ dafür vor, dass sich aus S 21 Nachteile für das Gemeinwohl ergeben könnten. Nur dann könne die Stadt aber die Finanzierungsvereinbarung kündigen. Nach seinem Dafürhalten sind die – allesamt mit Unterlagen von Bahn und Vertragspartnern unterlegten – Argumente der Projektgegner „unsubstantiiert, inhaltlich und zeitlich vollkommen unbestimmt und damit letztlich spekulativ“. Das Bürgerbegehren sei ein „Schuss ins Blaue“, eine „Schlag auf den Busch“. Die Behauptungen würden „objektiven Gegebenheiten“ widersprechen – Kirchberg meint damit Gerichtsurteile, den Stresstest 2010 und eine aktuelle Stellungnahme der Bahn bei der Anhörung zum Filderabschnitt 1.3. Sein Fazit: Die Stadt würde dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz der Vertragstreue („pacta sunt servanda“) zuwiderhandeln, wenn sie die aufgeworfene Frage, ob die Stadt den Finanzierungsvertrag kündigen solle, zum Gegenstand eines Bürgerentscheids machen würde.

SÖS-Linke und AfD kritisieren den Gutachter

Die Initiatoren des Bürgerbegehrens und der Fraktionschef von SÖS-Linke-Plus, Hannes Rockenbauch erheben indes schwere Vorwürfe gegen Kirchberg und seine Arbeit, auf deren Grundlage die Räte entscheiden werden. Unterstützung haben sie im Verwaltungsausschuss von AfD-Stadtrat Lothar Maier erhalten, einst Professor für Verbraucherpolitik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er sagte , er habe in seinem Leben so viele Gutachten geschrieben, dass er bei der Lektüre der ersten Seite erkenne, ob die Expertise ehrlich sei oder in erster Linie den Ansprüchen des Auftragnehmers genügen solle – und befürwortete eine ausführliche Klärung der Sachverhalte in einem separaten Faktencheck ähnlich der Schlichtung mit Heiner Geißler, wie er auch von Grünen und SPD im Ansatz gutgeheißen wurde.

Kirchberg wird die fachliche Qualifikation abgesprochen

In der Gemeinderatssitzung wird Kirchberg wohl vorgeworfen werden, er sei fachlich gar nicht in der Lage, die Gegenargumente zu qualifizieren und habe schlecht recherchiert. Beleg dafür sei etwa, dass er auf Papiere des Verkehrsministeriums und der Bahn verweise, die zum Zeitpunkt des Starts des Bürgerbegehrens noch gar nicht öffentlich zugänglich gewesen seien. Außerdem interpretiere er Gerichtsurteile falsch.

So sei in einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshof von 2014 lediglich die Rechtskraft eines vorigen Urteils bestätigt worden, nicht aber die Rechtmäßigkeit. Eine Aussage über die Leistungsfähigkeit sei dort gar nicht getroffen worden. Allerdings sei die Kapazität von lediglich 32 Zügen pro Stunde beim Tiefbahnhof (gegenüber 38 heute) in dem Urteil bestätigt worden – ohne dass dies Kirchberg zu denken gebeben hätte, weshalb auch Zweifel an seinen Rechenfähigkeiten geäußert werden sollen.

Für Kritik sorgt auch die Aussage, die im Finanzierungsvertrag geäußerte Prämisse eines um 50 Prozent höheren Zugangebots gegenüber 2001 sei mitnichten eine Leistungsvorgabe für die wichtige Spitzenstunde. Wenn Kirchberg nicht irren würde, hätte die Stadt einen Vertrag ohne konkrete Leistungsvorgabe unterzeichnet, schlussfolgern die Kritiker. Für durchsichtig und inakzeptabel erachten sie die Aussage, die Leistungskritik widerspreche „objektiven Gegebenheiten“. Kirchberg hat dafür auf sieben Dokumente verwiesen.

Züge sind weg, ohne sich in Bewegung gesetzt zu haben

Diese könnten allesamt die Leistungskritik nicht entkräften, behauptet Christoph Engelhardt von der Internetplattform Wikireal, die sich seit Jahren an der Bahn reibt. Ein Beispiel sei etwa das Stresstest-Ergebnis, auf das Kirchberg abhebe. Darin seien unter anderem abfahrende Züge aufgelistet, die sich noch gar nicht in Bewegung gesetzt haben. Die Simulation könne also gar nicht – wie behauptet – stattgefunden haben. Ein anderes Beispiel seien Aussagen des S-21-Gutachters Ulrich Martin, der sich doch längst selbst korrigiert habe: Die einstige Kapazitätsaussage des Leiters des verkehrswissenschaftlichen Instituts der Uni Stuttgart von 51 Zügen sei längst auf 42 Züge reduziert worden. Würde die „viel zu kurze Haltezeit von im Mittel 1,6 Minuten korrigiert, blieben sogar „keine 32 Züge übrig“, so Engelhardt. Er schlussfolgert, dass das Kirchberg wohl entgangen sei.

Und eine 100-seitige Stellungnahme der Bahn sei nicht etwa ein Beleg für die Leistungsfähigkeit, sondern das Gegenteil. Darin seien unfahrbare Daten veröffentlicht und methodische Fehler eingestanden worden. Ein VGH-Urteil von 2006 habe S 21 zwar als „ausreichend und zukunftssicher bemessen“, allerdings mit nur „32 bis 35 Gleisbelegungen pro Stunde“. Das Urteil sei durch „zahlreiche unrichtige und unvollständige Angaben zustande gekommen und unterliege folgenschweren Missverständnissen. Das Problem: Alle nachfolgenden Urteile würden Bezug auf diese fehlerhafte Entscheidung nehmen. Den Kollegen der anderen Fraktionen rät Rockenbauch deshalb, sich nicht auf Kirchbergs Aussagen zu verlassen, sondern nur auf einer soliden Faktenbasis zu entscheiden.