Der EU-Verkehrskoordinator Péter Balázs hält den Tiefbahnhof für ein wichtiges Element der europäischen Magistrale von West nach Ost.

Stuttgart - Die Bahnlinie von West nach Ost quer durch Europa ist das große Thema des Ungarn Péter Balázs. Als Verkehrskoordinator der EU legt er Wert darauf, dass auf der Strecke und in Bahnhöfen Fahrzeit gespart wird, Fernbahnen und Flughäfen verknüpft werden.

 

Herr Balázs, wann sind Sie zuletzt mit dem Zug von Paris nach Bratislava gefahren?
Noch nie. Niemand würde den Zug für die ganze Strecke nehmen. Es gibt einen Wettbewerb zwischen Flugzeug und Bahn. Die magische Grenze liegt bei vier Stunden. Bei dieser Reisezeit rechnet man mit beiden Möglichkeiten. Wenn die Bahn auf solchen Strecken unter vier Stunden liegt, wird sie bevorzugt. Es gibt fabelhafte Beispiele, etwa von Paris nach Brüssel: eine Stunde und zwanzig Minuten mit dem Zug, von Stadtmitte zu Stadtmitte. Mit dem Flugzeug brauche ich vier Stunden, mit Wartezeit und dem Weg zum und vom Flughafen.

2007 waren Sie an Bord des ersten TGV von Paris nach Stuttgart. Wann werden Sie vom neuen Stuttgarter Tiefbahnhof aus auf der Neubaustrecke nach Ulm fahren?
2019. Wenn alles planmäßig läuft, ist das realistisch.

Aber die Co-Finanzierung der EU für das Gesamtprojekt Stuttgart–Ulm ist an Fristen geknüpft. Werden die Gelder auch fließen, wenn sich die Fertigstellung verzögert?
Nicht unbedingt. Es gibt in der Tat Fristen, und die EU muss in diesem Zeitraum die Gelder der Mitgliedstaaten optimal verwenden. Wenn die Summen innerhalb der Frist nicht genutzt werden, werden sie umverteilt. Wenn die Strecke von Stuttgart nach Ulm nicht rechtzeitig fertig wird und zum Beispiel Finnland gleichzeitig ein Projekt schneller baut, fließt das Geld dorthin.

Baden-Württemberg geht dann leer aus?
Auch nicht unbedingt. Aber dann müsste die Co-Finanzierung für die nächste Finanzierungsperiode neu beantragt werden.

Und wenn die Kosten den bewilligten Rahmen sprengen, beteiligen Sie sich dann an der Folgerechnung?
Auch dazu gibt es eine Entscheidung. Für Stuttgart–Wendlingen stellt die EU höchstens 11,6 Prozent der Gesamtkosten oder maximal 114,5 Millionen Euro zur Verfügung. Für die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm sind das 101,5 Millionen Euro oder 14,4 Prozent. Gäbe es Mehrkosten, lägen diese außerhalb des bewilligten Rahmens. Der letzte Tag, an dem eine Rechnung in der laufenden Finanzierungsperiode an die EU gerichtet werden kann, ist der 31. Dezember 2015. Und ganz wichtig: es können nur abgeschlossene Maßnahmen in Rechnung gestellt werden. Das sind die Regeln . . .

. . . die aber nicht für den Bau eines Bahnhofs gelten; der ist eine regionale, maximal eine nationale, aber keine europäische Angelegenheit. Dennoch betonen Sie stets, der Tiefbahnhof sei untrennbar mit der Neubaustrecke nach Ulm verbunden. Warum?
Es gibt eine logische Arbeitsteilung. Die EU kann die grenzübergreifenden Strecken unterstützen, die Rheinbrücke bei Kehl zum Beispiel. Ohne sie hat eine Verknüpfung der französischen und deutschen Hochgeschwindigkeitsstrecken keinen Sinn. Wenn wir so ein Projekt realisieren, steigt die Verantwortung der lokalen Behörden‚ die Anbindung an das regionale Netz und den Flughafen zu gewährleisten.

Trotzdem ist der Bahnhof nicht Ihre Sache.
Den können wir in der Tat nicht mitfinanzieren. Aber wir freuen uns, wenn man einen neuen Bahnhof baut, der der gesamten Strecke nützt, weil wir damit Reisezeit sparen. Wie in Wien: der neue Durchgangsbahnhof dort verkürzt die Fahrzeit auf der Magistrale Paris–Bratislava um 40 Minuten. Ähnlich wird es in Stuttgart sein.

Es gibt aber Untersuchungen, die zum Ergebnis kommen, dass die Zeitersparnis zwischen Stuttgart und Ulm hauptsächlich von der Neubaustrecke kommt und es fast egal ist, ob in Stuttgart ein Kopf- oder ein Durchgangsbahnhof steht.
Das glaube ich nicht. Man braucht beim Durchgangsbahnhof deutlich weniger Gleise. Die Züge fahren schnell weiter. In alten Kopfbahnhöfen mit großen Flächen voller Schienen stehen die Züge zu lange.

Kann man denn aus europäischer Sicht die Proteste gegen Stuttgart 21 überhaupt nachvollziehen?
Bei der Umsetzung von Projekten gibt es geologische, finanzielle und politische Schwierigkeiten. Stuttgart 21 gehört zur dritten Kategorie. Das gibt es auch in anderen Ländern, beim Tunnelbau in Norditalien zum Beispiel. Aber in Stuttgart hat man durch die Proteste sehr viel gelernt, und vielleicht kann man aus den Erfahrungen von Stuttgart in ganz Europa lernen, wie wichtig eine gute Kommunikation ist.

Sie meinen, in Stuttgart gab es in erster Linie ein Kommunikationsproblem?
Ich glaube, das Leben ist komplizierter. Aber die fehlerhafte Kommunikation mit den Bürgern war ein sehr zentraler Aspekt.

Trotzdem haben die S-21-Befürworter den Volksentscheid gewonnen.
Man weiß aus der Politik, dass nicht immer diejenigen, die am lautesten protestieren, auch in der Mehrheit sind. Aus einer Volksabstimmung ergibt sich das richtige Bild.

Wie soll ein Ministerpräsident, der gegen Stuttgart 21 ist, nun damit umgehen?
Zum einen ist es sehr wichtig, das Votum zu achten. Das ist die Basis. Trotzdem sollte er seine Politik nicht aufgeben. Er ist für seine Ansichten gewählt worden. Politik ist die Kunst, das, was nötig ist, mit dem zu verbinden, was möglich ist. Nun eine Lösung zu finden, ist seine politische Verantwortung.

Glauben Sie, dass beide Positionen in Deckung zu bringen sind?
Nie zu 100 Prozent. Aber ein Optimum gibt es auf jeden Fall.

Können Sie Winfried Kretschmann nicht wenigstens einen kleinen Rat geben, wo der Kompromiss liegen könnte?
Herr Kretschmann braucht von mir keinen Rat. Ich bringe die Sichtweise der EU, ein bisschen Geld, viel Koordination und noch mehr Sympathie für das Land Baden-Württemberg.
Das Gespräch führten Christine Bilger und Holger Gayer.