Acht Wochen Proben sind geplant, die ersten fünf Wochen nur abends von 18 bis 22 Uhr, die letzten drei zusätzlich auch morgens von 10 bis 14 Uhr. Zählt man die rund dreißig Vorstellungen dazu, die nach der Premiere gespielt werden, wird klar, dass dieses Projekt ein Vollzeitjob ist. Es gibt 3000 Euro Honorar. Trotzdem muss der ein oder andere Kandidat schlucken. Doch bevor er gründlicher darüber nachdenken kann, wie lange ihn das Theater mit Haut und Haar absorbieren wird, drei Monate, bittet Lösch zum Spiel- und Sprechtest. Stufe drei des Castings. Auch Nana Just drückt er einen Textzettel in die Hand und positioniert sie lesend im Raum. Laut und leise, schnell und langsam, freudig erregt, zischend vor Hass oder cool aus der Hüfte: dass die Frau, die den Umgang mit Sprache ohnehin liebt, ein Talent zum Sprechen hat, erkennt Lösch binnen Sekunden.

 

Zwei Wochen nach der Kandidaten-Sichtung, unmittelbar nach der Landtagswahl, lädt er zur ersten Probe, abermals in der Musikhochschule. Nana Just ist dabei. Mit ihrem Arbeitgeber, dem Haus der Geschichte, hat sie eine Regelung gefunden, die ihr tatsächlich über drei Monate hinweg Zeit für Lösch lässt. Ihr Bühnenvertrag ist vorbereitet, die erste Gesprächsrunde, an der auch die Profischauspieler des Staatstheaters teilnehmen, beginnt.

S21 als Roadmovie im Wilden Westen

Machtwechsel hin, Machtwechsel her: Volker Lösch ist davon überzeugt, dass "Stuttgart 21 nicht im Parlament, sondern nur auf der Straße verhindert werden kann". Kein Widerspruch, stattdessen eine Rundumdiskussion über die "Kriminalisierung des S-21-Widerstands" und darüber, dass im Strafrecht "Gewalt gegen Sachen schärfer geahndet wird als Gewalt gegen Personen". In der Raummitte steht ein Mikrofon, das die Diskussion für die Dramaturgin Beate Seidel aufzeichnet. Auf diese Aufnahmen greift sie zurück, wenn sie die Gespräche später satzweise in das Stück einbaut. "Metropolis/Die Monkey-Wrench-Gang" ist als schriftlich fixiertes Drama ja noch nicht fertig montiert, es ist weiter im Fluss, auch S-21-Befürworter kommen zu Wort. Der Bürgerchor aber schreitet unterdessen von der Theorie zur Praxis und lernt lustvoll das Skandieren.

Verglichen mit dem, was jetzt folgt, waren die Sprechübungen beim Casting nur ein lausiges Vorspiel. Zum Inszenierungsteam ist der Chorleiter Bernd Freytag gestoßen. Er zeigt den Amateuren, wie man Vokale hoffnungsfroh öffnen und Konsonanten verbittert schließen, wie man ein A federleicht fliegen und ein S gefährlich durch den Raum schießen lassen kann - eine ungeheure, in akustische Feinheiten verliebte Präzisionsarbeit, die sich hörbar auszahlt, als der Chor seinen Probenraum in der Musikhochschule verlässt und dorthin zieht, wo die Premiere über die Bühne gehen wird.

Zum Casting kommen Arbeitslose und Sekretärinnen

Ihr Weg zum Casting ist kurz. Es findet in der alten Musikhochschule am Urbanplatz statt, wo auch das Haus der Geschichte seine Werkstätten hat. Zwei Stockwerke muss Just erklimmen, dann steht sie in dem vergammelten Probenraum, in dem sich Mitte März, zwei Wochen vor der Landtagswahl, vierzig Männer und Frauen darum bemühen, vor Lösch und seiner Jury zu bestehen. Als wäre die Konkurrenz nicht schon groß genug, bringt das Theaterteam auch noch Leute ins Spiel, die es aus früheren Produktionen kennt. Am Ende bewerben sich sechzig Kandidaten auf siebenundzwanzig Stellen. Die Auswahl fällt schwer, selbst wenn die Auswahlkriterien einigermaßen klar sind. "Der Bürgerchor muss die soziale Breite des Protests abbilden", sagt Lösch, "die Gruppe ist die Festplatte, mit der wir die Produktion starten."

Die Jury, in der neben dem Regisseur noch die Dramaturgin Beate Seidel und die Bühnen- und Kostümbildnerin Cary Gayler sitzen, blickt mit Scanner-Augen auf die Bewerber. Mann und Frau, jung und alt, Halbhöhe und Kessel - all diese Merkmale sollen in der Masse auftauchen, die von ihnen bald revoltierend durch "Metropolis" gejagt wird. Ein Bewerber nach dem anderen stellt sich vor, auf den arbeitslosen jungen Mann folgt die mittelalte Fremdsprachensekretärin, auf den Schüler die Journalistin, auf den Rentner die Lehrerin. Alle potenziellen Choristen stammen aus Stuttgart und der Region und werden nun einem dreistufigen und zeitaufwendigen Casting unterzogen. Lösch leitet es mit großer Souveränität und freundlicher Geduld.

Der Bürgerchor als authentische Stimme

Jeden Bewerber verwickelt er in ein Gespräch über Stuttgart21. Es ist, auch wenn dieses Gespräch locker daherkommt, die Prüfung auf Herz und Nieren. "Was stört Sie an dem Bauprojekt?", fragt Lösch die Männer und Frauen. "Wie kann man es verhindern?", will er wissen, "hilft nur noch der Druck der Straße?" Und so unterschiedlich die Antworten im Einzelnen auch ausfallen, sie haben doch eine Gemeinsamkeit. Neben dem blanken Unverständnis für das milliardenteure Unternehmen ist es die Empörung über den "schwarzen Donnerstag", die den Schauspielkandidaten noch immer die Zornesröte ins Gesicht treibt. Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray gegen Demonstranten: das gehe gar nicht, sagen sie fast unisono, gegen diesen Missbrauch der Staatsgewalt müsse man mit allen Mitteln kämpfen, eben auch mit den Mitteln des Theaters. Das hört Lösch gern, schließlich will er keine Mitläufer, sondern Überzeugungstäter gewinnen für ein Theaterprojekt, dessen Details seine Laiendarsteller noch gar nicht kennen.

Nach dem S-21-Gespräch und der immer wiederkehrenden Frage, wem die Stadt gehört, zündet der Regisseur die zweite Stufe des Castings. Ausführlich informiert er die Bewerber über das Konzept seiner Inszenierung. Sie speist sich aus drei Quellen. Da ist zunächst "Metropolis", der Roman von Thea von Harbou, der aus dem Drehbuch zum gleichnamigen Filmklassiker entstanden ist. Er vermittle, sagt Lösch, die Sicht der Herrschenden, während die Sicht der Unterdrückten dann aus dem Roman "Die "Monkey-Wrench-Gang" stamme. Das Hippiebuch von Edward Abbey handle von vier "Ökoterroristen", die eben als Gang, als Bande durch die Wildnis der amerikanischen Canyons fahren und zum Schutz der Natur einen Sabotageakt nach dem anderen verüben, nicht ohne dabei über ihr Verhältnis zur Gewalt nachzudenken. Und last, not least erhalte auch der Bürgerchor selbst eine authentische Stimme in dem Stück. Eben deshalb werde er die Gruppe während der Proben systematisch zu Gesprächen ermuntern. "Ach ja", fügt Lösch noch hinzu, "haben Sie denn überhaupt Zeit für unser Projekt?"

Freudig erregt oder zischend vor Hass

Acht Wochen Proben sind geplant, die ersten fünf Wochen nur abends von 18 bis 22 Uhr, die letzten drei zusätzlich auch morgens von 10 bis 14 Uhr. Zählt man die rund dreißig Vorstellungen dazu, die nach der Premiere gespielt werden, wird klar, dass dieses Projekt ein Vollzeitjob ist. Es gibt 3000 Euro Honorar. Trotzdem muss der ein oder andere Kandidat schlucken. Doch bevor er gründlicher darüber nachdenken kann, wie lange ihn das Theater mit Haut und Haar absorbieren wird, drei Monate, bittet Lösch zum Spiel- und Sprechtest. Stufe drei des Castings. Auch Nana Just drückt er einen Textzettel in die Hand und positioniert sie lesend im Raum. Laut und leise, schnell und langsam, freudig erregt, zischend vor Hass oder cool aus der Hüfte: dass die Frau, die den Umgang mit Sprache ohnehin liebt, ein Talent zum Sprechen hat, erkennt Lösch binnen Sekunden.

Zwei Wochen nach der Kandidaten-Sichtung, unmittelbar nach der Landtagswahl, lädt er zur ersten Probe, abermals in der Musikhochschule. Nana Just ist dabei. Mit ihrem Arbeitgeber, dem Haus der Geschichte, hat sie eine Regelung gefunden, die ihr tatsächlich über drei Monate hinweg Zeit für Lösch lässt. Ihr Bühnenvertrag ist vorbereitet, die erste Gesprächsrunde, an der auch die Profischauspieler des Staatstheaters teilnehmen, beginnt.

S21 als Roadmovie im Wilden Westen

Machtwechsel hin, Machtwechsel her: Volker Lösch ist davon überzeugt, dass "Stuttgart 21 nicht im Parlament, sondern nur auf der Straße verhindert werden kann". Kein Widerspruch, stattdessen eine Rundumdiskussion über die "Kriminalisierung des S-21-Widerstands" und darüber, dass im Strafrecht "Gewalt gegen Sachen schärfer geahndet wird als Gewalt gegen Personen". In der Raummitte steht ein Mikrofon, das die Diskussion für die Dramaturgin Beate Seidel aufzeichnet. Auf diese Aufnahmen greift sie zurück, wenn sie die Gespräche später satzweise in das Stück einbaut. "Metropolis/Die Monkey-Wrench-Gang" ist als schriftlich fixiertes Drama ja noch nicht fertig montiert, es ist weiter im Fluss, auch S-21-Befürworter kommen zu Wort. Der Bürgerchor aber schreitet unterdessen von der Theorie zur Praxis und lernt lustvoll das Skandieren.

Verglichen mit dem, was jetzt folgt, waren die Sprechübungen beim Casting nur ein lausiges Vorspiel. Zum Inszenierungsteam ist der Chorleiter Bernd Freytag gestoßen. Er zeigt den Amateuren, wie man Vokale hoffnungsfroh öffnen und Konsonanten verbittert schließen, wie man ein A federleicht fliegen und ein S gefährlich durch den Raum schießen lassen kann - eine ungeheure, in akustische Feinheiten verliebte Präzisionsarbeit, die sich hörbar auszahlt, als der Chor seinen Probenraum in der Musikhochschule verlässt und dorthin zieht, wo die Premiere über die Bühne gehen wird.

Dort, in der Arena in der Türlenstraße, hat Cary Gayler ihre Bühne aufgeschlagen. Terrassenförmig liegt eine Wüstenlandschaft vor uns, mit Kakteen aus Pappe vor einem Rundprospekt des Grand Canyon. S21 als Roadmovie im Wilden Westen! Und Nana Just setzt jetzt ihre Schutzbrille auf, um auf Löschs Kommando hin die Bühne zu stürmen, auf Kotflügel einzudreschen und im Chor Sätze zu sagen, die Emotionen hervorrufen werden. Es sind ökoterroristische Sätze. Alles andere wäre bei einem Regisseur wie Volker Lösch auch eine Enttäuschung. Die steile Parteinahme zählt bei ihm zum Grundsatzprogramm.

Die Premiere am Samstag ist ausverkauft. www.staatstheater.stuttgart.de/schauspiel/spielplan