Die grün-rote Landesregierung gibt sich am Tag nach den Krawallen der S-21-Gegner einig, aber hinter den Kulissen wird die Nervosität größer.

Stuttgart - Auch am Morgen haben sich die Gemüter kaum beruhigt. Am Bauzaun und an den Absperrgittern wird wieder hitzig diskutiert. Passanten versuchten den Polizisten, die die verwüstete Baustelle bewachen, zu erklären, warum Stuttgart 21 zum Scheitern verurteilt sei. Eine Polizistin schüttelt den Kopf, der blonde Pferdeschwanz fliegt wild hin und her. "Wir bauen das doch nicht. Wir stehen doch nur hier, weil unser Chef uns schickt und wir Wache schieben müssen", sagt sie.Hinter den Gittern wird aufgeräumt. Zwei Männer von der Baufirma Hölscher besichtigen den Schaden, sichtlich genervt. " Was bitte ist denn daran noch friedlich? Allein ein Reifen kostet 800 Euro. Die Stuttgarter sollen sich echt schämen", schimpft er. Als "Drecksack" sei er am Morgen schon beschimpft worden, als er versuchte, zur Baustelle zu kommen. In der Wolframstraße blockierten Demonstranten die Straße.

 

Die am Montagabend über den Schlossgarten verstreuten Rohrstücke sind wieder eingesammelt. Dort, wo ein Sprengkörper explodierte, schnüffelt ein Polizeihund. Beamte laden das Baumaterial von dieser Stelle in ein Auto, um es näher zu untersuchen. Kerzenstummel auf dem Asphalt des alten Busbahnhofs zeugen davon, dass hier am Montagabend auch irgendwie Partystimmung unter den Demonstranten herrschte. Nach der Demo kam die Randale. Doch die meisten Demonstranten sehen auch am nächsten Tag wenig Grund zur Aufregung. Das Ganze werde aufgebauscht. Die grün-rote Regierung dagegen, für die die Luft nach den Ausschreitungen vom Montagabend dünner wird, ist nicht amüsiert. Und schon gar nicht die Polizei.

Ein Polizist liegt noch im Krankenhaus

Der Stuttgarter Polizeipräsident Thomas Züfle benennt auf der Baustelle, um was es geht: Landfriedensbruch, schwere Sachbeschädigung und neun Fälle von schwerer Körperverletzung. Acht Polizisten sind wegen eines Knalltraumas über Nacht im Krankenhaus gewesen. Eine Fotografin, die ebenfalls in der Nähe des eines gezündeten Böllers gestanden hatte, wird von der Polizei als Zeugin dafür herangezogen. Denn kaum war am Abend die Meldung bekannt geworden, liefen im Internet auch schon die ersten Kommentare, so schlimm sei der Böller nicht gewesen.

Ein Polizist liegt noch im Krankenhaus. Er soll schwere Verletzungen an Kopf und Hals haben. Die Polizei ermittelt wegen versuchten Totschlags. Protestler sollen auf den am Boden liegenden Zivilbeamten eingeschlagen haben. "Die Polizei fantasiert, dramatisiert und kriminalisiert, um einen Keil in den Widerstand zu treiben", sagt dazu der Pressesprecher der Parkschützer, Matthias von Herrmann. Mit Handy-Videos versuchen die S-21-Gegner, ihre Sicht zu belegen. "Das schlägt dem Fass den Boden aus", empört sich der Landeschef der Polizeigewerkschaft, Joachim Lautensack.

Nichts hat am Montagabend darauf hingedeutet, dass der Abend in Randale enden würde. Begleitet vom Stakkato zahlreicher Trommler waren nach der viel besser als in den vergangenen Wochen besuchten Montagsdemonstration hunderte Demonstranten vor den Südflügel gezogen, wo noch Reden stattfinden sollten. Am Südflügelende riegelte die Polizei die Straße Am Schlossgarten ab. Ihre Flanke ist durch einen hohen Bauzaun gesichert, hinter der sich das täglich kontrovers diskutierte Grundwassermanagement befindet - ein Pumphaus mit verschiedenen Tanks, davor Rohrstücke und Baufahrzeuge.

Detonation erschüttert die Luft

Plötzlich Gejohle und Bewegung im Demonstrationskörper. Der Zaun wird auf der gesamten Länge niedergedrückt, auf dem Dach und dem Tank versammeln sich elf, mehrheitlich jugendliche Aktivisten. Einige bemühten sich erfolgreich, mit dem nachgerückten Publikum La-Ola-Wellen zu organisieren. Indes ist die Polizei, die meisten Beamten in voller Montur, aufgezogen. Vertreter des "Deeskalationsteams" der Parkschützer, unter anderem mit dem Ausbildungsmeister für Gartenbau Michael Dieter, stellen sich zwischen Polizei und Demonstranten. Eine gewaltige Detonation erschüttert die Luft. Etwa 30 der rund 1500 Demonstranten werfen herumliegendes Baumaterial herum und besetzen die Fahrzeuge der Wasserbaufirma, augenscheinlich gut situierte Normalbürger im Alter zwischen 30 und 70 Jahren. Aus den Lastwagenreifen wird die Luft abgelassen, Rentnerinnen geben dafür Deckung. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass auch Zucker in Tanks geschüttet und an der Hydraulik manipuliert wurde. Der Schaden soll im siebenstelligen Bereich liegen, heißt es am Dienstag. Eine ganze Gruppe von Projektgegnern im fortgeschrittenen Alter versucht gar, die Umhüllung eines der Wasserrohre anzuzünden.

Eine Teilnehmerin hat gestern Abend per Mail anderen Sympathisanten die Freude über die tolle "Volksfeststimmung" zum Ausdruck gebracht: Sie beschreibt die vierfache Menschenkette, während gegenüber bereits der Bauzaun eingetreten worden sei. "Einige rollten die riesigen blauen Rohre von den Stapeln, warfen Verbindungsteile über den Zaun, erkletterten das Dach des Grundwassermanagements, entrollten Transparente, und alles brüllte begeistert". Der Erlebnisbericht endet mit dem Fazit: "Das Ganze hat was Volksfesthaftes" und mit der Medienschelte.

Die SPD duckt sich weg

"Grube auf, Grube rein, Grube zu", intoniert der kollektive Widerstand. Und Pfarrer Johannes Bräuchle, seit der Schlichtung das personifizierte rote Tuch für die Gegner, weiß nun auch was ihm blüht: "Es wird der Tag kommen, da wird sie der liebe Gott für ihr Verhalten bestrafen", schleudert ihm ein Passant ins Gesicht. Eine rüstige Protestlerin macht es kürzer: Herr Bräuchle, sie sind ein Arschloch."

Doch es gibt auch andere Szenen. Eine Frau steht dicht am Absperrgitter, an der Jacke hat sie unzählige Anstecker, Abzeichen des Widerstands gegen Stuttgart 21. Durch die Stäbe hält Petra Camili die Hand eines Polizisten. "Er ist so ein guter Mann - und jetzt stehen ihm die Tränen in den Augen", sagt die 52-jährige Stuttgarterin. "Ich finde es so schrecklich, was heute hier passiert ist", sagt sie, und geht nach Hause, bevor die Menge gegen Mitternacht mit lauter Musik das Gelände verlässt. "Lasst uns solidarisch abziehen, damit kein einzelner zurückbleibt", ruft der DJ an der Anlage, die im Einkaufswagen voraus rollt. Eine einzelne Frau steht am nächsten Morgen wieder am Zaun. Es ist Petra Camili. Sie schüttelt ihren Kopf, ihr schwarzer Pferdeschwanz fliegt hin und her. Sie redet mit der blonden Polizistin. Nicht darüber, wie schlecht Stuttgart 21 sei. Sondern darüber, was in der Nacht zuvor schiefgelaufen ist.

Grüne in höchster Not

Die Ausschreitungen vom Montagabend stellen die Regierungskoalition vor eine große Herausforderung. Besonders für die Grünen sei die Lage höchst unangenehm, konstatiert die SPD und duckt sich ansonsten weg - insgeheim froh, dass der Ärger um die Proteste auf das Konto des Koalitionspartners geht. Den bringen die gewalttätigen Proteste in höchste Nöte.

Jetzt sieht sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann genötigt, zum gewaltbereiten Widerstand auf Distanz zu gehen. Er erledigt das zwar kurz jedoch eindeutig aus dem Urlaub. "Gewalt ist in jeglicher Form - egal ob gegen Menschen oder Sachen - unmissverständlich zu verurteilen und wird von der Landesregierung nicht toleriert". Er warnt, der Schlichtungsprozess werde konterkariert, wenn die Auseinandersetzung nicht friedlich geführt werde. "Nur im Rahmen einer sachlichen und gewaltfreien Auseinandersetzung können wir zu einer Lösung des Konflikts kommen", mahnt er.

Sein Landesvorsitzender Chris Kühn beschwört die Protestierenden: "Wenn die Schwelle zur Gewalt überschritten wird, schwächt das den Widerstand". Edith Sitzmann, die Fraktionschefin der Grünen im Landtag sekundiert: "Für uns Grüne gibt es kein oben bleiben ohne friedlich bleiben". Für Gewalt gebe es keine Rechtfertigung. Führende SPD-Mitglieder sehen die Grünen in einer besonderen Verantwortung bei der Deeskalation. Sie sprechen von Geistern, die die Grünen gerufen hätten und nun nicht los würden und unterstellen,die Grünen hätten die Stimmung mit befeuert.

Offiziell demonstrieren die Partner aber Einigkeit. Auch Nils Schmid, der stellvertretende Ministerpräsident und SPD-Landesvorsitzende verurteilt die Ausschreitungen entschieden: "Wer Polizisten angreift, handelt kriminell" Deutlich wird Claus Schmiedel, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landtag. Er sagt: "Ich verurteile aufs Schärfste die Gewalt gegen Polizisten und die Besetzung der Baustelle. Was sich dort abspielt, steht in keiner Verbindung mit dem Recht auf Meinungsfreiheit und auf Demonstration." Schmiedel nennt es ungeheuerlich, dass der Sprecher der Parkschützer, Matthias von Herrmann, die Ausschreitungen kommentierte, dies sei ein Zeichen, dass der Widerstand lebt.

"Der Einsatz muss verhältnismäßig sein"

Schmiedel fordert Brigitte Dahlbender, die Vorsitzende des BUND auf, zu prüfen, ob sie ihr Gesicht weiterhin für diese Art der Auseinandersetzung zur Verfügung stelle. "So wie der Protest jetzt abläuft, sollten sich anständige Leute nicht daran beteiligen". Er rechnet damit, dass sich die gewaltbereiten Demonstranten von den anderen trennen. Und dann gibt es für Schmiedel bei allem neuen Politikstil und aller Transparenz und Politik des Gehörtwerdens der neuen Landesregierung kein Vertun. Gegen radikale Demonstranten müsse auch ein SPD-Innenminister die notwendige polizeiliche Gewalt einsetzen.

Schwierig kann es werden, wenn sich die friedlichen Demonstranten nicht distanzieren. Dann sei fraglich, ob Innenminister Reinhold Gall seine bisherige Politik der Deeskalation durchhalten könne. Allein der Gedanke an einen Großeinsatz der Staatsgewalt bereitet den Grünen Bauchschmerzen. Chris Kühn, dem Landesvorsitzenden, bleibt nur zu sagen, "es ist klar, dass die Polizei vor Ort muss, wenn der Protest nicht friedlich ist, aber der Einsatz muss verhältnismäßig sein".

Noch sehen weder Grüne noch SPD die Koalition zusätzlich belastet. Das alte Misstrauen bleibt. Inoffiziell halten einige führende Genossen ohnehin den Verkehrsminister für ein zentrales Problem. Winfried Hermann heize regelmäßig Spekulationen an, die er wenige Tage später zurücknehmen müsse. Die FDP vermutet gar ein abgekartetes Spiel innerhalb der Grünen. Kretschmann gebe den guten Winfried für die bürgerlichen Wähler, Hermann spiele den bösen Winfried, der die militanten Gegner bei der Stange halten müsse.