Stuttgart-21-Gegner haben am Mittwoch in Berlin eine neue Kostenprognose vorgelegt. Demnach könnte der Umbau des Stuttgarter Bahnhofs bis zu zehn Milliarden Euro kosten. Die Bahn weist die Zahlen zurück.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Die von der Bahn mit maximal 6,52 Milliarden Euro angegebenen Baukosten für Stuttgart 21 könnten sich bis auf knapp zehn Milliarden erhöhen. Das behauptet der Betriebswirtschaftler Martin Vieregg, der seine Baukostenprognose aus dem Jahr 2008 im Auftrag des Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 aktualisiert hat. Das Papier ist am Mittwoch in Berlin vorgestellt worden. Zeitgleich trat der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn in der Hauptstadt zusammen. Gut 50 S-21-Gegner waren nach Berlin gereist und demonstrierten vor dem Bahntower, wo ein DB-Sprecher die erneuerte Kostenprognose entgegennahm.

 

Der eisenbahnpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfaktion, der Filder-städter Matthias Gastel, nennt die Zusammenstellung „Horror, aber leider kein unrealistischer“. Von der Bahn, die durch das Projekt weiter in die roten Zahlen getrieben werde, erwarte er noch vor der Landtagswahl im März kommenden Jahres einen aktualisierten Kosten- und Zeitplan. Das von Gastels Parteifreund Winfried Hermann geführte Landesverkehrsministerium erklärt auf Anfrage, das Vieregg-Papier liege noch nicht vor. „Wir werden die Deutsche Bahn um eine Stellungnahme bitten“, sagt eine Sprecherin. Das Ministerium unterstreicht, „das Land wird sich an weiteren Kostensteigerungen über die 4,526 Mrd. Euro hinaus nicht beteiligen.“ Ähnliches verlautet aus dem Stuttgarter Rathaus. „Wir werden uns das in Ruhe anschauen. Ich erwarte aber, dass die Bahn als Bauherr zeitnah eine schlüssige Stellungnahme zu den aufgezeigten Kostenrisiken abgibt“, sagt Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne). Von der Partei Die Linke hingegen kommt der Ruf nach einem Ausstieg. Bernd Riexinger, Spitzenkandidat für die Landtagswahl, erinnert Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) daran, dass dieser die umstrittene Mischfinanzierung einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen lassen wollte. „Doch passiert ist mal wieder nichts“, beklagt Riexinger. Stattdessen lasse Kretschmann diesen Verfassungsbruch zu Lasten des Landes zu. Die finanzielle Beteiligung des Landes haben auch die S-21-Gegner im Visier. Eisenhart von Loeper, Rechtsanwalt und Sprecher des Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, erneuerte am Mittwoch in Berlin die Hoffnung, das Bundesverwaltungsgericht werde kommendes Jahr der finanziellen Beteiligung des Landes einen Riegel vorschieben.

Die dann zurückzuzahlenden Zuschüsse sind noch nicht in die Prognose von Vieregg eingeflossen. Aber auch ohne sie ermittelt er Kosten von 9,8 Milliarden Euro für die Umgestaltung des Bahnknotens. Zugleich sagt er eine Fertigstellung frühestens im Jahr 2024 voraus. Diese Abweichung vom offiziellen Zeitplan, der eine Inbetriebnahme Ende 2021 vorsieht, werde weitere Kostensteigerungen nach sich ziehen. Für seine Arbeit hat der Betriebswirtschaftler nach eigenen Angaben „das umfangreiche verfügbare Material systematisch gesichtet, insbesondere viele Zeitungsartikel im Internet, neue Veröffentlichungen der DB AG, aber auch projektkritische Artikelsammlungen wie www.netzwerke-21.de“, heißt es in dem 21-seitigen Papier.

Allein der Preis für die Bahnhofshalle soll sich verdoppeln

Als ausgeprägter Preistreiber entpuppt sich in der Arbeit dabei der eigentliche Durchgangsbahnhof im Stuttgarter Talkessel. Setzte Vieregg in seiner Studie von 2008 für den Bau der Station noch 757 Millionen Euro an, schlägt die Bahnsteighalle nun mit 1,6 Milliarden Euro zu Buche. Den Preissprung, der mehr als eine Verdopplung der Kosten darstellt, führt Vieregg auf die komplexe geologische und hydrologische Situation vor Ort, auf den hinter dem Zeitplan herhinkenden Baufortschritt und die Anforderungen, die sich aus dem Brandschutz ergeben, zurück. Allein die Kosten für das Bahnhofsdach, die in der Prognose von 2008 noch mit 1200 Euro je Quadratmeter angesetzt waren, beziffert das neue Papier nun auf 4800 Euro pro Quadratmeter. Nach Viereggs Ansicht liege das auch an der Architektur. „Die Kelchstützen, die das Dach tragen und zum Teil auch bilden, sind unkalkulierbar“. Die Stützen würden als das schwierigste gelten, was je in Beton gegossen wurde, sagte Vieregg.

Auf 358 Millionen Euro beziffert das Papier die Mehrkosten im Abschnitt rund um den Flughafen im Vergleich zu den 2008 ermittelten Zahlen. Vieregg rechnet darin die Aufwendungen für das in der Schlichtung beschlossene zweite westliche Zufahrtsgleis zum Fernbahnhof, das sogenannte Dritte Gleis in der S-Bahnstation sowie die von der Region gewünschte Verknüpfung des S-Bahnhalts mit der Neubaustrecke Richtung Neckartal. Für die Aufweitung der S-Bahnstation haben Bahn, Land und Region allerdings eine separate Finanzierungsvereinbarung geschlossen, der S-Bahn-Ringschluss ist weder beschlossen noch finanziert.

Im Jahr 2008 hatte das Münchner Beratungsunternehmen Vieregg&Rössler im Auftrag der Stuttgarter Gemeinderatsgrünen und des Landesverband des Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Kosten für Stuttgart 21 in einer Höhe zwischen 6,9 und 8,7 Milliarden Euro vorausgesagt. Die Bahn kalkulierte damals noch mit 2,8 Milliarden Euro. Im März 2009 erhöhte sie den Ansatz auf 4,52 Milliarden Euro. Der Aufsichtsrat der Bahn genehmigte im März 2015 einen Kostenrahmen von 6,526 Milliarden Euro. Das neue Vieregg-Papier weist die Bahn als „nicht haltbare Spekulation“ zurück. „Das im Auftrag von Stuttgart-21-Gegnern erstellte Spekulationspapier ist nicht belastbar und nennt – wie zu erwarten – Zahlen fernab der Realität“, erklärt Peter Sturm, Geschäftsführer der Bahnprojektgesellschaft Stuttgart-Ulm und für das Risikomanagement des Vorhabens verantwortlich. Zum Jahresende seien 70 Prozent des für Bauaufträge vorgesehenen Volumens vergeben. Diese Vergabequote und „die bisherige Entwicklung an Nachträgen im Projekt Stuttgart 21 dokumentieren nachvollziehbar, dass unsere Kostenkalkulation absolut plausibel ist“, sagt Sturm. Die Verantwortlichen der Projektgesellschaft zeigen sich überzeugt, den Umbau des Bahnknotens innerhalb des bewilligten Finanzrahmens bewerkstelligen zu können.

Bahn nennt das Papier eine „Kostenspekulation“

Für die Gegner des milliardenschweren Vorhabens ist dagegen keine Ende der Kostensteigerungen in Sicht. Vage heißt es in dem Papier von Martin Vieregg: „Es ist möglich und in einem gewissen Rahmen wahrscheinlich, dass bestimmte Informationen nicht vorliegen, die zu weiteren Kostensteigerungen führen oder zumindest führen können.“