Stuttgart 21 galt als unumkehrbar. Nun könnte der Bund andere Prioritäten setzen. Die Übereinkunft mit der Bahn könnte hinfällig sein.

Stuttgart - Die Auswirkungen des grün-roten Erfolgs bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg haben auch das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 und die geplante ICE-Trasse nach Ulm schneller erfasst als erwartet. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), der sich auf Dienstreise in Brasilien befindet, hat am Montag die Order an sein Ministerium ausgegeben, binnen 24 Stunden die Auswirkungen des Regierungswechsels in Stuttgart auf das Verkehrsprojekt zu prüfen. Dies sei "keine Böswilligkeit. Aber ich bin als Verkehrsminister gezwungen, politisch zu reagieren, wenn es zu politischen Kehrtwendungen einzelner Landesregierungen kommt", so Ramsauer. Sollte die neue Regierung zu dem Schluss kommen, bestimmte Großprojekte nicht weiter zu verfolgen, würden die dafür vom Bund bereitgestellten Mittel nach dem Länderschlüssel umverteilt. Schließlich, so der CSU-Politiker, könne er ja keine Landesregierung zu etwas zwingen. "Wenn andere Länder schneller wissen, was sie wollen", seien diese am Zug, sagte der CSU-Minister.

 

Der Tübinger OB Boris Palmer (Grüne) zeigte sich verwundert über Ramsauers Botschaft: "Bis zum Wahltag ein Projekt für unumkehrbar zu erklären und am Tag nach der Niederlage prüfen zu wollen, ob man das Geld dafür abziehen kann, ist ein erstaunliches Vorgehen." Ramsauer könne nicht einfach "den Geldhahn zudrehen, nur weil ihm die Farbe der Regierung nicht passt". Palmer vermutet, der Bund suche einen Vorwand, um sich von einem finanziell aus dem Ruder laufenden Projekt zu verabschieden. Es sei aber die Pflicht des Bundes, in die Infrastruktur des Landes zu investieren - nur eben in sinnvolle Projekte. Stuttgarts SPD-Kreischef Andreas Reißig attestierte dem Minister, er mache "auf beleidigte Leberwurst".

Krisensitzung bei der Bahn

Der Bund hatte sich vertraglich zur Zahlung von 925 Millionen für die mittlerweile auf rund 2,9 Milliarden Euro Gesamtkosten kalkulierte Schnellbahntrasse nach Ulm sowie zur Übernahme aller Preissteigerungen verpflichtet. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte einen Baukostenzuschuss von 950 Millionen Euro zugesagt, um den zeitgleichen Baubeginn der Trasse mit dem vorgesehenen Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation sicherzustellen. Bund und Bahn haben erst kürzlich eine Beteiligung der Bahn an den eingeräumten Mehrkosten von 865 Millionen Euro vereinbart: Sie soll von 2012 an höhere Dividenden an ihren Eigentümer, den Bund, zahlen, der das Geld dann unter anderem in die ICE-Trasse reinvestieren will.

Diese Übereinkunft könnte nun hinfällig sein. Der Bahn-Vorstand trat am Montagnachmittag zu einer Krisensitzung zusammen. Bei den vertraulichen Beratungen sollen nach StZ-Informationen Konsequenzen des Wahlausgangs erörtert worden sein. Für Dienstragwird eine Erklärung des Konzerns erwartet. Bei einem möglichen Aus für die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke hätte sich auch das Projekt Stuttgart 21 erledigt: Ohne den Anschluss an die Trasse hätte der Bau des Tiefbahnhofs keinen Sinn. Die Kosten für das neue Terminal und seine Anschlussstrecken werden mit maximal 4,5 Milliarden angegeben.

"Ein richtiger, fairer Stresstest"

Vertreter von SPD und Grünen haben sich am Montag erneut für einen Baustopp bis zur vorgesehenen Volksabstimmung über das Gesamtprojekt ausgesprochen. Der designierte Vizeregierungschef Nils Schmid (SPD), Befürworter von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke nach Ulm, erklärte, es sei "hilfreich", bis zu einem Volksentscheid keine neuen Fakten zu schaffen. Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, will "dafür sorgen, dass es zu einem richtigen, fairen Stresstest kommt". Danach werde man schauen, "ob das umgesetzt werden kann", sagte er. Es gehe um Zusatzkosten von bis zu einer halben Milliarde Euro, die bisher schöngerechnet worden seien. "Wir werden ehrliche Zahlen machen, wir gucken, dass wir es gründlich durchrechnen, und am Ende könnte möglicherweise auch eine Abstimmung der Bevölkerung darüber stehen", sagte Özdemir im Deutschlandradio Kultur.

Boris Palmer verlangte erneut einen sofortigen Bau- und Vergabestopp. Seine Parteifreundin Muhterem Aras, die im Wahlkreis Stuttgart I das Direktmandat erobert hatte, betonte, der Bund müsse seine Zuschüsse überprüfen und möglicherweise streichen. Vermutlich sei dann keine Volksabstimmung mehr nötig. "Die Bahn ist frei von politischem Druck und kann zu ihrer Aufgabe zurückkehren, mehr und besseren Verkehr auf die Schiene zu bringen", sagte der Chef der Grünen-Ratsfraktion, Werner Wölfle. Was die beiden S-21-Projektsprecher betreffe, "wird für Udo Andriof und Wolfgang Dietrich eine andere Verwendung gefunden werden müssen".

Die Projektbefürworter fordern dagegen, S21 zu realisieren. Ein Sprecher der IG Bürger für Stuttgart 21 hob hervor, 67 Prozent der Wähler hätten Parteien ihre Stimme gegeben, die sich für den Tiefbahnhof ausgesprochen hätten.