Kurz vor der entscheidenden Sitzung des Bahn-Aufsichtsrats Mitte nächster Woche sind die rechtlichen Folgen der Stuttgart-21-Kostenexplosion unklar. Gilt die beim Volksentscheid getroffene Entscheidung für einen Weiterbau auch jetzt noch?

Stuttgart - Mitte nächster Woche, am 16. Januar, trifft sich der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn im Berliner Firmentower am Potsdamer Platz, um bei einer außerordentlichen Sitzung über die Zukunft von Stuttgart 21 zu entscheiden. Die Sitzung soll einen Workshop-Charakter haben, in der auch Fragen einer möglichen Haftung des Gremiums im Falle der Unwirtschaftlichkeit des Projekts erörtert werden sollen. Bis dahin müssen sich die 20 Mitglieder des Kontrollgremiums darauf verständigen, ob sie dem Vorschlag des Bahnvorstands folgen, die bei der vergangenen Sitzung im Dezember eingeräumten Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro bei dem bisher auf 4,52 Milliarden Euro kalkulierten Projekts komplett selbst zu übernehmen. Auch mögliche Ausstiegsszenarien sollen diskutiert werden. Außerdem geht es um die Frage, ob sich bei einem Projektstopp auch der Bau der ICE-Trasse Wendlingen-Ulm erledigen würde.

 

Einerseits steht durch die Kostenexplosion in der genannten Höhe sowie weiteren Risiken in Höhe von 1,2 Milliarden Euro die Wirtschaftlichkeit des Projekts in Frage – der Bahnchef Rüdiger Grube selbst hatte diese in der Vergangenheit nur bei Gesamtkosten von bis zu 4,7 Milliarden Euro gesehen. Würde es teurer, wäre Stuttgart 21 ein Verlustgeschäft für die Bahn, hatte Grube im Dezember 2009 unmissverständlich erklärt. Gleichzeitig muss der Frage nachgegangen werden, auf welcher rechtlichen Grundlage ein Ausstieg aus dem Projekt erfolgen könnte. Der Bahnvorstand verweist auf eine vertraglich festgelegten Ausführungsverpflichtung. Und die grün-rote Landesregierung, an der Spitze der Ministerpräsident Winfried Kretschmann, verweist auf das Ergebnis des Volksentscheids vom November 2011, damals war der Projektausstieg von einer Mehrheit der Abstimmenden abgelehnt worden. Dieses Ergebnis gelte unabhängig von der Kostenexplosion.

Im Aufsichtsrat gibt es zwei Meinungen

Dies hat jüngst Gisela Erler (Grüne), die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, noch einmal öffentlich betont. Sie argumentierte unter Berufung auf den Wortlaut des Ausstiegsgesetzes, den Bürgern sei – trotz anderslautender Behauptungen der Projektbefürworter – klar gewesen, dass mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen sei. Offenbar argumentieren nun auch Mitglieder des Aufsichtsrats vor der entscheidenden Sitzung in diese Richtung. Es gibt aber auch konträre Ansichten im Gremium.

Der Rechtsexperte Joachim Wieland, einer der Väter des Volksentscheids, hat sich klar geäußert: Das Volk habe den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung unter der Prämisse abgelehnt, dass das Limit von 4,52 Milliarden Euro nicht überschritten werde. Nachdem die Bahn nunmehr Mehrkosten von bis zu 2,3 Milliarden Euro eingeräumt habe, sei die Volksabstimmung nicht mehr verbindlich, so der Professor der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Damit sei auch ein Ausstieg aus Stuttgart 21 möglich.

Regierung ist nicht an Ergebnis gebunden

Aufgrund der neuen Situation sei die Regierung Kretschmann nicht mehr an das Ergebnis gebunden, betont der Verfassungsrechtler Wieland. So könne sie etwa auch das Volk noch einmal um eine Entscheidung bitten. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz laute: Entscheidungen werden nur für die gegebenen Umstände getroffen. Wenn diese sich wesentlich ändern, könne man Entscheidungen oder Verträge aufheben oder kündigen.

Zur Erinnerung: Ziel der Volksabstimmung war ein abschließendes und befriedendes Votum zu S 21, um die Spaltung der Bürgerschaft zu überwinden. Die Abstimmung bezog sich freilich nicht auf den Fortgang der Bauarbeiten, sondern auf ein Gesetz zur Kündigung des Finanzierungsvertrags zwischen Land und Bahn, also auf den Landesanteil an der Finanzierung in Höhe von 930 Millionen Euro. Die sperrige Frage lautete: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ,Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21’ (S-21-Kündigungsgesetz) zu?“ Rund 58 Prozent der Wähler hatten auf dieser Basis gegen einen Ausstieg des Landes aus der Mitfinanzierung votiert.

Die Finanzierung der ICE-Trasse nach Ulm war übrigens nicht Gegenstand des Plebiszits. Im Entwurf des Ausstiegsgesetzes heißt es dazu wörtlich: „Die Neubaustrecke kann auch an den bestehenden Kopfbahnhof angebunden werden, sowie dies bereits die Bahn vor Entstehen des Projekts Stuttgart 21 geplant hatte.“ Während die Neubaustrecke laut Bundesverkehrsministerium ein Bundesprojekt ist, handele es sich bei S 21 um ein „eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn“.