Eine Mannheimer Studie zeigt, dass die Volksabstimmung als verbindlich anerkannt wird. Auch wer vom Ergebnis enttäuscht ist, ist im Prinzip zufrieden.
Stuttgart - Die Volksabstimmung über Stuttgart 21 hat in der Bürgerschaft den Wunsch nach mehr politischer Teilhabe befördert. Allerdings hatte sich eine Mehrheit auch zuvor schon vom politischen Prozess keineswegs ausgeschlossen gefühlt. Das ist das Ergebnis einer Studie der Universität Mannheim, die das Meinungsbild in der Bevölkerung vor und nach dem Plebiszit vom 27. November 2011 abbildet. Die Volksabstimmung habe das Politikbild in Baden-Württemberg positiv beeinflusst, resümiert Thorsten Faas, Politikprofessor an der Mannheimer Universität. „Die schlichte Tatsache, dass es die Volksabstimmung überhaupt gegeben hat, wird sowohl von den Gegnern wie auch den Befürwortern von Stuttgart 21 geschätzt.“ Der Politikwissenschaftler erkennt hier einen Gestaltungsspielraum für Elemente direkter Demokratie.
Allerdings ist es keineswegs so, dass die repräsentative Demokratie als Organisationsprinzip des politischen Systems in Baden-Württemberg keine Zustimmung finden würde. Die Mannheimer Forschergruppe erkundete schon vor der Volksabstimmung in einer repräsentativen Erhebung das politische Grundbefinden im Südwesten. Eine der Aussagen, die den Befragte vorgelegt wurde, lautete: „Mit dem Funktionieren der Demokratie in Baden-Württemberg bin ich sehr unzufrieden.“ Das war immerhin die Zeit, als am Stuttgarter Hauptbahnhof und vor dem Landtag die „Lügenpack“-Rufe erschollen.
Doch nur 19 Prozent der Befragten stimmten dem Satz „eher“ oder „voll und ganz“ zu. 47 Prozent der Befragten wandten sich hingegen gegen die These von der großen Unzufriedenheit – sie stimmten „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ zu. Das restliche Drittel der Befragten antwortete mit teils-teils. Großen Anklang fand allerdings die Aussage: „Politiker kümmern sich nicht darum, was einfache Leute denken.“ Immerhin 56 Prozent der Befragten neigten zu dieser Meinung.
Genügend Möglichkeiten, sich politisch einzubringen
Dennoch stießen die Forscher vor der Volksabstimmung nicht auf eine Bürgerschaft, die nach mehr Beteiligung lechzte. 59 Prozent der Befragten stimmten der These „eher“ beziehungsweise „voll und ganz“ zu, dass es „in Baden-Württemberg genügend Möglichkeiten gibt, sich politisch zu beteiligen“. Zugleich sagten aber auch 60 Prozent, Volksabstimmungen seien „ein gutes Mittel, um wichtige politische Fragen zu entscheiden“.
Dem Votum für Volksabstimmungen schlossen sich besonders deutlich die Gegner von Stuttgart 21 an, die damit ihr Misstrauen gegen die parlamentarische Entscheidungsfindung bekundeten. Nach Parteianhängerschaft sortiert, findet sich bei den Grünen die größte Neigung zu Plebisziten. Danach folgen – in dieser Reihenfolge – FDP, SPD und CDU. Das ist insofern interessant, als die Idee zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 von der SPD gekommen war – allerdings weniger aus Begeisterung über die direkte Demokratie als aus Sorge um die Einheit der über den Tiefbahnhof zerstrittenen Partei.
Das durchaus ambivalente Verhältnis der Bürger zu Plebisziten spiegelt sich auch in den Antworten auf die Aussage: „Über Wahlen hinaus sollten die Bürger an möglichst vielen politischen Entscheidungen direkt beteiligt werden.“ 52 Prozent der Befragten stimmten zu, 19 Prozent lehnten dies ab. 28 Prozent antworteten mit teils-teils. Immerhin bewerteten nach der Volksabstimmung 71 Prozent der Befragten die Tatsache, dass es die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 gegeben hatte, mit „sehr gut“ oder „eher gut“, nur 13 Prozent mit „sehr schlecht“ oder „eher schlecht“.
„Die Leute fühlen sich ernst genommen“
Dabei fällt auf, dass auch nach der Volksabstimmung die Unterlegenen, also die Stuttgart-21-Gegner, das Referendum positiv bewerteten. Thorsten Faas kommt zu dem Schluss: „Nach der Volksabstimmung sind auch viele von denen zufrieden, die vom Ausgang enttäuscht sind.“ Gisela Erler (Grüne), in der grün-roten Landesregierung Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, hält die hohe Akzeptanz der Volksabstimmung unter den Projektgegnern für bemerkenswert. „Die Leute fühlen sich ernst genommen“, sagt die Staatsrätin erkennbar erleichtert. War doch das Referendum unter den Projektgegnern zunächst durchaus umstritten, weil es als Instrument galt, S 21 unter basisdemokratischer Flagge durchzusetzen. Die Kritik richtete sich auf das Zustimmungsquorum von einem Drittel, das die Projektgegner erreichen mussten. Am Ende spielte es aber keine Rolle, weil die Befürworter eine deutliche Mehrheit erreichten.
Die Verbindlichkeit der Volksabstimmung steht daher außer Frage. 89 Prozent der Befragten gaben an: „Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg muss das Ergebnis der Volksabstimmung in jedem Fall akzeptieren.“ Der Aussage „Nach der Volksabstimmung sollen die Demonstrationen rund um Stuttgart 21 aufhören“ stimmten 64 Prozent „voll und ganz“ sowie weitere 15 Prozent „eher“ zu. 13 Prozent widersprachen, der Rest äußerte ein „teils-teils“. Interessant sind die Reaktionen der Befragten zu der Aussage: „Wenn das Projekt Stuttgart 21 erheblich teurer wird als heute erwartet, sollte man auf den Bau verzichten“. Obwohl die grün-rote Landesregierung in ungewohnter Einigkeit jede Mehrausgabe jenseits der 4,5-Milliarden-Euro-Grenze ablehnt, stimmen nur 31 Prozent der Befragten dieser Aussage zu, 55 Prozent widersprechen, 14 Prozent sind unentschieden.
Keine großen Folgen für die Parteienlandschaft
Am Ende bleiben zwei Fragen. Erstens: Welche Folgen hatte die Volksabstimmung auf die Regierung und die Parteienlandschaft? Keine allzu großen, sagt die Mannheimer Forschungsgruppe. Die Landesregierung konnte in der Bewertung auf einer Skala von plus fünf (sehr zufrieden) bis minus fünf (sehr unzufrieden) leicht zulegen: von 0,4 vor der Volksabstimmung auf 0,7 nach der Volksabstimmung. In der Bewertung der Parteien bewegten sich die Grünen von 0,7 auf 1,0 nach oben; sie konnten also zulegen, obwohl sie ihr Versprechen nicht einlösten, Stuttgart 21 nicht zu bauen. Die SPD verbesserte sich leicht von 0,3 auf 0,4. Die CDU ließ nach und rutschte von minus 0,2 auf minus 0,4. Die FDP verlor ebenfalls und sank von minus 1,8 auf minus 2,0.
Die zweite offene Frage lautet: Welche Schlüsse zieht die Landesregierung für die Zukunft? Staatsrätin Erler will das Land nicht mit Volksabstimmungen überziehen. Auch sie erkennt „keine manifeste Unzufriedenheit“ mit dem politischen System. Volksabstimmungen könnten ein „sinnvolles Instrument sein, das man dazu gibt“. Etwa bei Infrastrukturentscheidungen, bei denen andere, vorgeschaltete Beteiligungsverfahren nicht zur Befriedung führten.