Hölderlin schwärmte von der romantischen schwäbischen Kulturlandschaft. Behörden planen heute ökologische Ausgleichsmaßnahmen.  

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Manchmal steht die Natur dem Naturschutz im Weg. Nördlich der Egelseer Heide im Stadtteil Rotenberg gedeihen Äpfel, Kirschen, Trauben, Rüben, Kartoffeln, Feldblumen und Beeren. Wenn unten im Tal Stuttgart 21 entsteht, werden den Bauern die Früchte ihrer Arbeit genommen. Die Stadt kündigt den Pächtern und übergibt die Fläche der Deutschen Bahn. Anschließend wird die blühende Landschaft durch einen dürren Rasen ersetzt. Die Behörden sprechen von einem "Ersatz für die im Gleisbereich verloren gehenden Magerstandorte".

 

Wer Tieren und Pflanzen einen Lebensraum nimmt, ist gesetzlich verpflichtet, ihnen einen neuen Lebensraum einzurichten. So weit, so klar. Doch wie dieses Rechtsprinzip in der Praxis umgesetzt wird, durchschaut nur eine kleine Expertenschar. Die Masse der Laien reibt sich hingegen angesichts des Rotenberger Idylls verwundert die Augen und fragt: Warum muss eine grüne Kulturlandschaft kaputtgemacht werden, um eine ökologische Ausgleichsfläche für ein Milliardenprojekt zu schaffen?

Neue Naturschutzregelung hilft der Wirtschaft

Die Antwort findet man in Paragraf 19, Absatz 2 des Bundesnaturschutzgesetzes in seiner bis 28. Februar 2010 geltenden Fassung. Darin wurde eine "räumliche und funktionale Beziehung zwischen dem Eingriff und der Ersatzmaßnahme" gefordert. Wenn also ein Bauherr eine Wiese betonierte, musste er dafür sorgen, dass in unmittelbarer Nähe eine neue Wiese geschaffen wird. Erst seit der Gesetzesnovellierung im vergangenen Frühjahr ist lediglich eine "Ersatzmaßnahme im selben Naturraum" gefordert. Durch diese Modifikation soll das Wirtschaftsleben erleichtert werden.

Stuttgart liegt in einem Naturraum, der sich vom Schwäbisch-Fränkischen Wald bis zum Albvorland erstreckt. Folglich könnte die Bahn mittlerweile in Murrhardt oder Hechingen die Umwelt schützen, um die Stuttgart-21-Nebenwirkungen rechtlich wettzumachen. Da das Vorhaben größtenteils die Planfeststellung durchlaufen hat, kommt die Gesetzesänderung für die Rotenberger Landwirte jedoch zu spät. Ihre Grundstücke nördlich der Egelseer Heide fallen überholten Paragrafen zum Opfer.

Ausgleich der Eingriffe in die Natur findet oft nicht statt

Wenn die Interessen von Bauherr und Natur kollidieren, ist in Deutschland jedes Detail geregelt. Freilich hapert es häufig mit der Umsetzung von Vorschriften. So lebt im Stuttgarter Schlossgarten der streng geschützte Juchtenkäfer in Platanen, was die Deutsche Bahn nicht daran hinderte, einen dieser alten Bäume zu fällen. Im Nachhinein wurde der Konzern zwar vom Verwaltungsgericht für sein forsches Vorgehen gerügt, außer 5000 Euro Gerichtskosten drohen der Bahn zurzeit jedoch keine weiteren Konsequenzen. Zweites Negativbeispiel: Als Ausgleichsmaßnahme für den Flächenverbrauch durch die B535 im Nordwesten Baden-Württembergs wurde der Rückbau der L600 festgelegt. Über die neue Bundesstraße rollt seit zehn Jahren der Verkehr, doch die Landesstraße existiert bis zum heutigen Tage.

Das sind keineswegs Einzelfälle. Bereits 2007 bemängelte der Landesrechnungshof: "Die Kompensation von Eingriffen in Natur und Landschaft im Straßenbau weist oft Defizite auf. Insgesamt bewegt sich der Umsetzungsgrad der Maßnahmen nach unseren Erkenntnissen zwischen 50 und 70 Prozent." Weiter hieß es in dem Jahresbericht: "Das naturschutzrechtliche Ökokonto kann künftig dazu beitragen, diese Probleme zu bewältigen, ohne den Landeshaushalt zusätzlich zu belasten."

"Ökologie und Ökonomie profitieren gleichermaßen"

Am kommenden Freitag wird nun tatsächlich das von den staatlichen Finanzkontrolleuren ausgestellte Rezept eingelöst. Für Tanja Gönner ist die neue Ökokontoverordnung ein Wundermittel. "Die neue Regelung macht das Verfahren flexibler und transparenter", verspricht die baden-württembergische Umweltministerin. Denn fortan könne Natur an einer Stelle angespart werden, bevor sie an einer anderen Stelle zerstört wird. "Es gibt auch positive Auswirkungen für die Landwirtschaft."

Ein Beispiel: der oberschwäbische Bauer Mustermann bewirtschaftet intensiv einen Maisacker, dadurch gelangt Nitrat in ein benachbartes Moor. Künftig könnte Mustermann sein ökologisch minderwertiges Feld (drei Ökopunkte pro Quadratmeter) in eine ungedüngte Feuchtwiese (26 Ökopunkte pro Quadratmeter) umwandeln. Den daraus entstehenden Aufwertungsgewinn (23 Ökopunkte pro Quadratmeter) bucht Mustermann via Internet beim Landratsamt ein, wo sein Konto öffentlich einsehbar ist. Ein Bauherr wie die Deutsche Bahn muss nun für ein Vorhaben nicht mehr verzweifelt nach Ausgleichsflächen suchen, sondern kann dem Bauern die Ökopunkte oder gleich die ganze Feuchtwiese abkaufen. Folglich werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, meint Tanja Gönner: "Wir haben die Weichen so gestellt, dass Ökologie und Ökonomie gleichermaßen profitieren."

Unklar, wer Maßnahmen kontrollieren soll

Wenige Kilometer vom Amtssitz der Umweltministerin entfernt, in der Stuttgarter Paulinenstraße 47, wird die neue Verordnung weniger euphorisch kommentiert. "Die Änderung war zwar längst überfällig, den zunehmenden Flächenverbrauch kann sie jedoch nicht aufhalten", sagt Christine Fabricius vom baden-württembergischen Landesverband des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland.

Statt einen landesweiten Biotopverbund zu kreieren, sagt Christine Fabricius, "wird wohl auch künftig in Wald und Flur nur einfaches und billiges Flickwerk produziert". Ärgerlich sei auch, dass das Land selbst auf eigenen Flächen Ökopunkte sammeln könne, obwohl die öffentliche Hand ohnehin zum Naturschutz verpflichtet sei. Zudem sei unklar, wer die Maßnahmen kontrollieren soll. "Die Naturschutzbehörden sind hoffnungslos unterbesetzt und können diese Aufgabe gar nicht bewältigen."

Bodenfunktion wird nur selten ausgeglichen

Siegfried Zenger ist ein erfahrener Staatsdiener, der sich kein negatives Wort über den Gesetzgeber entlocken lässt. Der 54-jährige Diplomingenieur leitet beim Landratsamt Böblingen das Sachgebiet Landschaftspflege und Artenschutz. Wenn er redet, merkt man, dass er bereits ein Vierteljahrhundert im öffentlichen Dienst tätig ist. Zenger benutzt Worte wie "Reststrukturen", "Wiedervernässung" oder "Sukzession". Um zu begreifen, was hinter diesen sperrigen Begriffen steckt, muss man den Sachgebietsleiter hinaus ins Freie begleiten.

Zengers Dienstfahrt führt nach Weissach. Die Autobahn hinter Leonberg wurde kürzlich auf sechs Spuren erweitert, auch dafür gab es logischerweise ökologische Ersatzmaßnahmen. Doch kann ein renaturierter Bach oder eine gepflegte Streuobstwiese eine versiegelte Grünfläche kompensieren? "Die Beeinträchtigung der Bodenfunktion auszugleichen, ist sehr schwierig", antwortet Zenger.

Lieber zum Daimler als auf die Weide

Im Weissacher Ortsteil Flacht frisst sich das Gewerbegebiet Neuenbühl II ins Heckengäu. Gegenüber biegt Zenger in einen Feldweg ein. "So, jetzt sind wir am Hartmannsberg." Zenger holt einen Spaten aus dem Kofferraum. Mit dem Werkzeug demonstriert er, was einen "flachgründigen Boden im Bereich des oberen Muschelkalks" ausmacht: magere Erdschicht, darunter Stein - "des Teufels Hirnschale", wie der Volksmund einst sagte. Auf dem kargen Hang ist Ackerbau kaum möglich, weswegen die Menschen hier jahrhundertelang Schafe und Kühe grasen ließen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Bauern lieber zum Daimler als auf die Weide, weil man am Fließband in kürzerer Zeit mehr Geld verdient.

Bis Anfang der 1990er Jahre sprossen am unbewirtschafteten Hartmannsberg die Kiefern ungehindert in die Höhe. Im Schatten der Nadelbäume drohten die lichthungrigen Pflanzen am Boden (Schlehe, Ragwurz oder Hauhechel) und die von ihnen abhängigen Tiere (Zipfelfalter, Laufkäfer oder Neuntöter) zu verschwinden. Gerettet wurde die Flora und Fauna ausgerechnet durch die Expansionspläne eines Autobauers: Porsche wollte sein Entwicklungszentrum in Weissach erweitern.

Es wird "landschaftsökologisch optimiert"

Der staatliche Landschaftspfleger Zenger beschloss, als Kontrapunkt zum technischen Fortschritt die Zeit zurückzudrehen: Porsche baute graue Hallen, und der Kreis Böblingen beseitigte den grünen Wildwuchs. Bis heute hat sich ein dreißig Hektar großes Gebiet vom Wald in eine Wiese zurückverwandelt, auf der es munter kreucht und fleucht - bei einer Untersuchung wurden allein dreißig Schmetterlingsarten gezählt. "Der Hartmannsberg ist zu schade, um ihn sich selbst zu überlassen", sagt Zenger.

Ein Schäfer sorgt nun mit seiner Herde dafür, dass es hier oben zugeht wie vor zweihundert Jahren. Man könnte den romantischen Dichter Hölderlin rezitieren (O! schöne, selige Stunde! / Wie getrennte Geliebte nach langentbehrter Umarmung / In die Arme sich stürzen, so eilt ich herauf auf die Heide / Mir ein Fest zu bereiten auf meiner einsamen Heide). Man kann aber auch wie der Sachgebietsleiter Siegfried Zenger von einer "landschaftsökologischen Optimierung" sprechen.

Auch in Rotenberg wird demnächst landschaftsökologisch optimiert: eine Magerwiese ersetzt die Obstbäume, die Feldblumen, die Kartoffeläcker und die Beerensträucher. Im Tal gedeiht derweil Stuttgart 21.