Nach einer turbulenten Sitzung hat der Stuttgarter Gemeinderat zwei Bürgerbegehren gegen Stuttgart 21 gestoppt. Auch der einstige S-21-Kritiker und heutige Oberbürgermeister Fritz Kuhn stimmte mit den Befürwortern des umstrittenen Bahnprojekts.
Der Gemeinderat hat am Donnerstag nach einer dreistündigen Sitzung die Anträge auf Zulassung zweier Bürgerentscheide zum „Ausstieg der Stadt Stuttgart aus S 21“ zurückgewiesen. Einmal begründeten die Initiatoren und rund 20 000 Bürger ihre Forderung mit den Kostensteigerungen gegenüber dem Finanzierungsvertrag von 2,3 Milliarden Euro. Das aktuellere Bürgerbegehren vom März unterstellte einen Leistungsrückbau – im heutigen Kopfbahnhof könnten mehr Züge in der Spitzenstunde abgefertigt werden als im geplanten Tiefbahnhof; für Stuttgart 21 sei zudem eine Leistungssteigerung von 50 Prozent vereinbart, die nicht erfüllt werden könne.
Auf der Tribüne machten zahlreiche Projektgegner ihrem Unmut Luft. OB Fritz Kuhn (Grüne) wurde als Wendehals beschimpft, Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS-Linke-Plus) dagegen für seine Beiträge mit „Ausstieg jetzt“-Sprechchören bedacht.
Basis für die Entscheidung des Rats, in dem lediglich SÖS-Linke-Plus, zwei Grünen-Stadträtinnen, Ralph Schaertlen (Stadtisten) und die AfD den von je 20 000 Bürgern unterschriebenen Begehren entsprochen hätten, waren Gutachten des Rechtsanwalts Christian Kirchberg. Die Mehrheit teilte dessen Ansicht, die Bürgerbegehren seien auf ein rechtswidriges Ziel gerichtet und deshalb abzulehnen. Der Anwalt sah keine „konkreten Anhaltspunkte“, dass sich aus S 21 Nachteile für das Gemeinwohl ergeben könnten.
Keine Kündigung wegen Kostenexplosion möglich
Bei der Forderung, wegen der Kostenexplosion aus dem Projekt auszusteigen, wies Kirchberg auf die fehlende Kündigungsmöglichkeit hin; die Sprechklausel regele nur, dass Land und Bahn bei Überschreitung der Obergrenze darüber verhandeln, wer wie viel bezahlt. Zudem sei die Stadt von Mehrkosten nicht betroffen.
Hinsichtlich der angeblich zu geringen Leistungsfähigkeit von S 21 fehlten ihm konkrete Anhaltspunkte für eine solche Behauptung. Für den Gutachter sind die Argumente der Projektgegner „unsubstantiiert, inhaltlich und zeitlich vollkommen unbestimmt und damit letztlich spekulativ“. Kirchberg und OB Kuhn, der noch 2010 davon „überzeugt“ war, „dass mit acht unterirdischen Durchgangsgleisen ein zukünftiger unterirdischer Engpass gebaut“ würde, verwiesen in der Beschlussvorlage auf die vielen Gutachten, Urteile und Tests, in denen S 21 eine ausreichende Kapazität unterstellt wird. Für SPD-Fraktionschef Martin Körner Anlass für die süffisante Frage an Kuhn, warum der OB eigentlich jemals gegen das Projekt gewesen sei. Hannes Rockenbauch arbeitete sich derweil am Gutachter ab, der nicht sorgfältig recherchiert habe. Sein Versuch, den Beweis mit Hilfe von Unterlagen zu führen, scheiterte: Der Gemeinderat hatte ihm die Verwendung der Hilfsmittel untersagt. Kirchberg soll auf Papiere des Verkehrsministeriums und der Bahn verwiesen haben, die beim Start des Bürgerbegehrens noch gar nicht öffentlich zugänglich gewesen seien. Außerdem interpretiere er Urteile falsch.
Erneut gerieten sich der SÖS-Chef und der OB über die im Finanzierungsvertrag geäußerte Prämisse eines um 50 Prozent höheren Zugangebots gegenüber 2001 in die Haare. Während sie stritten, ob Taktzüge oder alle in der Spitzenstunde verkehrenden Züge gemeint waren, zeigten sich die Referenten auf der Bürgermeisterbank gelangweilt. Viele Stadträte versorgen sich unterdessen mit Kaltgetränken oder vertieften sich in ihre Handys und Computer.
Zuvor hatte eine knappe Mehrheit mit der Stimme von OB Fritz Kuhn zudem den Vertrauensleuten der Bürgerbegehren eine Stellungnahme verwehrt. Sein Vorgänger Wolfgang Schuster (CDU) hatte einst die Vertreter des Bürgerbegehrens zur Wasserversorgung angehört.
SPD-Chef Körner bezeichnete den Antrag der SÖS-Linke-Plus als „eine reine Showveranstaltung“, Lothar Maier (AfD) wiederum sagte, es sei „kein Ruhmesblatt für die Verwaltung, den Vertrauensleuten das Rederecht zu versagen“. Alexander Kotz (CDU) wollte es nicht zulassen, dass die Vertrauensleute vor dem Gemeinderat für ein rechtswidriges Ziel werben“. Jochen Stopper (Grüne) entgegnete, wer ein Bürgerbegehren initiiere, sei deswegen „kein Verbrecher“.