Mit Tunneln wird der künftige S-21-Tiefbahnhof mit dem Streckenetz der Bahn verbunden – auch von der Innenstadt in Richtung Bad Cannstatt. Eine „Brücke im Berg“, so die Ingenieure, soll die Gebäude über den Röhren vor Schäden bewahren. StZ-Redakteur Christian Milankovic ist 26 Meter in die Tiefe gestiegen und hat sich die Baustelle angeschaut.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Schwindelfreiheit ist nicht unbedingt eine Eigenschaft, die man von Tunnelbauern erwarten würde. Und doch ist sie eine unabdingbare Voraussetzung für alle, die in die Baustelle des Cannstatter Tunnels für Stuttgart 21 wollen. Denn auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz geht’s für die Mineure erst einmal 26 Meter senkrecht abwärts – und das in einer gewagten Aufzugkonstruktion, die am Rand des ovalen Lochs befestigt ist. Zwischenangriff Nord heißt die Grube martialisch in der Sprache der Tunnelbauer. Durch sie gelangen die Arbeiter zu den eigentlichen Tunnelröhren. Fast 117 Meter haben sie sich von der Sohle der Grube waagrecht in Richtung der späteren Röhren vorangearbeitet.

 

Später dienen diese Stollen im Notfall als Evakuierungsweg von einer Tunnelröhre zur anderen. Alle 500 Meter gibt es solche sogenannten Querschläge. Viel zu groß sei der Abstand, um im Ernstfall die Passagiere rasch in Sicherheit zu bringen, monieren die Kritiker. Genau den Vorgaben entsprechend seien die Abstände, kontert die Bahn. Von Zugverkehr ist freilich noch nichts zu sehen. Stattdessen holpern Bagger, Transporter und andere Fahrzeuge in ziemlich dichter Folge vorüber.

Das Hin und Her des schweren Geräts zu koordinieren, ist die Aufgabe von Wadim Strangfeld. Auf der Großbaustelle zwischen Nordbahnhof und Gäubahngleisen hat er das Sagen. Der Ingenieur leitet die Arbeiten in diesem Abschnitt des Cannstatter Tunnels, einem von vier auf Stuttgarter Markung, die den Durchgangsbahnhof in der City mit dem bestehenden Gleisnetz rund um den Kessel verknüpfen sollen. Insgesamt entstehen neun Kilometer Tunnel zwischen der Innenstadt und dem Neckarufer unterhalb des Schlosses Rosenstein. Davon entfallen 5,1 Kilometer auf die Tunnel für die Fernbahnzüge, knapp ein Kilometer allein auf die Querschläge und der Rest auf den S-Bahn-Tunnel, der auch den neuen Halt Mittnachtstraße mit einschließt. Gut 1,9 Kilometer sind geschafft.

Das klingt nicht nach viel – zumal das Inbetriebnahmedatum 2021 für das Gesamtprojekt nach wie vor als ambitioniert gilt. Deswegen suchen die Ingenieure auch nach Wegen, den Bauablauf zu beschleunigen, ganz im Sinn von Manfred Leger. Der Geschäftsführer der DB-Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm hatte im StZ-Interview im April 2015 angekündigt, dass die Baustellen noch deutlich an Fahrt zulegen würden. Wadim Strangfeld ist sich sicher, zumindest ein halbes Jahr gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan gespart zu haben.

Nicht weit vom Zwischenangriff Nord unterqueren die Tunnel Bürogebäude an der Pressel- und der Heilbronner Straße. Eigentlich hätten die Bahnbauleute zunächst Beton in den Boden unter den Gebäuden pressen und damit Vorsorgen treffen sollen, dass sich die Bauten nicht senken. Hebungsinjektion heißt das im Ingenieursdeutsch. „Durch Gespräche mit unseren Auftragnehmern sind wir zu einem anderen Verfahren gekommen und konnten uns die Injektionen sparen“, sagt Strangfeld. Das sei so auch vom Eisenbahn-Bundesamt abgesegnet.

Im Fall der Gebäude an der Presselstraße wendet die Bahn nun Sicherungsmaßnahmen in den Tunneln an. Je nachdem, wie stark sich die Arbeiten an der Oberfläche zeigen, reagieren die Mineure unter Tage. Im Zweifel kommt dann auch der sogenannte Rohrschirm zum Einsatz. Dabei werden kreisrunde Löcher mit knapp 14 Zentimeter Durchmesser oberhalb der späteren Tunnelstrecke 18 Meter weit in den Berg getrieben und mit Beton verfüllt. Alle 15 Meter beginnen neue Bohrungen, sodass sich die Verstärkungen drei Meter weit überlappen. „Wir bauen eine Brücke im Berg“, erklärt Strangfeld. Sie soll helfen, die Gebäude vor Schäden zu bewahren.

Der Bürokomplex Bülowbogen senkt sich leicht

Den Eigentümern bleibt wenig anderes übrig, als auf die Ingenieurskunst zu vertrauen. Einer davon ist Horst Bülow. Dem Immobilienunternehmer gehört unter anderem der seinen Namen tragende Bülowbogen, ein Bürogebäude im Zwickel zwischen Presselstraße und Gäubahngleisen. „Der Bülowbogen hätte sich 28 Millimeter senken dürfen. Dann hätten wir den Tunnelbau stoppen und Hebungsinjektionen machen müssen“, sagt Strangfeld. Bei 22 Millimeter hat das Gebäude aufgehört, sich zu bewegen. Die Mineure sind längst ein gutes Stück weiter in Richtung Innenstadt. „Einige meiner Mieter haben mich immer wieder gefragt, wann es denn losgeht. Da war die Bahn schon unter uns durch“, sagt Bülow. Er sei sehr zufrieden damit, wie es gelaufen ist. „Wir waren ständig informiert, und unsere eigenen Gutachter konnten alles prüfen“, sagt er. „Das war sehr transparent“ – und hat überdies ganz neue Perspektiven eröffnet. „Ich habe meine Büros von unten gesehen“, sagt Bülow.

Die Eigentümer in die Tunnelbaustelle mitzunehmen, gehört zum Instrumentarium, mit dem die Bahn Vertrauen aufbauen will. Zu gut sind noch die Schlagzeilen in Erinnerung, die eine andere S-21-Baustelle nahe dem Wagenburgtunnel produziert hat. Dort gab es an der Zentrale der Landeswasserversorgung an der Schützenstraße Risse. Doch später bestätigte der Verband selbst, dass die sich schon gezeigt hatten, noch ehe sich die Tunnelbauer im Untergrund zu schaffen machten. An der Presselstraße blieben diese Aufregungen allen Beteiligten erspart. Strangfeld kann die Zahlen scheinbar im Schlaf herunterrasseln. Die Gebäude neigten sich in einem Verhältnis von 1:1140, die Sicherheitsgrenzen liegen bei 1:500. Ab diesem Wert zeigten sich Risse. Zum Vergleich: Der Schiefe Turm von Pisa neigt sich im Verhältnis von 1:10.

Noch viel komplizierter als das Untertunneln von Bürogebäuden ist allerdings die Aufgabe, die die Mineure erwartet, die sich in Richtung Bad Cannstatt vorarbeiten. Nur zwei Meter trennt die Tunneldecke von den Fundamenten, auf denen das Gäubahnviadukt an der Nordbahnhofstraße ruht. Senkt sich die Eisenbahnbrücke um maximal sechs Millimeter, dürfen die Züge Richtung Schweiz sie nur noch in reduziertem Tempo passieren. Strangfelds Team tastet sich deswegen langsam an die Sache heran. „Zuerst bauen wir die Röhre vom Hauptbahnhof Richtung Bad Cannstatt“. Die liegt zehn Meter tiefer und 30 Meter versetzt vom Tunnel für die Gegenrichtung, der genau unter dem Gäubahnviadukt verlaufen soll. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollen helfen, auch diese Passage ohne Schäden zu meistern.

Einige Meter nach der kritischen Untertunnelung der Brückenfundamente, werden die Mineure ein erstes Etappenziel feiern können. An der Ehmannstraße stoßen sie dann auf eine offene Baugrube, den Zwischenangriff Rosenstein. Ein kleines Insekt hat auch dort die Bahn zur Umplanung gezwungen. Damit vom Juchtenkäfer bewohnte Bäume stehen bleiben können, wird die Grube nur 55 Meter lang statt der ursprünglich geplanten 200 Meter.