In Stuttgart kommen mit der Flüchtlingswelle 2015 Tausende Geflüchtete an. Wir haben damals aus einer Notunterkunft berichtet. Doch wie geht es den Menschen heute? Was ist aus ihnen geworden? Antworten geben uns Ibrahim aus Syrien sowie Dauod und Sakina aus Afghanistan.

Kultur: Kathrin Waldow (kaw)

Stuttgart/Aichhalden - Stuttgart, Dezember 2015 – Tausende Menschen kommen mit der Flüchtlingswelle in die Landeshauptstadt. Viele von ihnen finden in Notunterkünften wie etwa in der Zeltstadt beim Reitstadion in Bad Cannstatt ein erstes neues Zuhause.

 

Wir sind damals vor Ort und berichten in einer 24-Stunden-Livereportage aus dem Flüchtlingscamp. Wir sprechen mit Flüchtlingen und Helfern, berichten über die Zustände, erfahren von den Nöten und Hoffnungen der Neuankömmlinge. Unter den vielen Schicksalen fallen uns in diesen 24 Stunden drei Menschen besonders auf: Der junge Ingenieur Ibrahim Ferik aus Aleppo, die ehemalige afghanische Offizierin Sakina Esmaily und der Arzt Daoud Lali – ebenfalls aus Afghanistan.

Was ist aus ihnen geworden? Wo leben die drei 2017?

Wir haben Ibrahim, Daoud und Sakina in den vergangenen zwei Jahren begleitet und immer wieder besucht – fast immer an unterschiedlichen Orten. Umziehen gehört zum Flüchtlingsalltag. Angst und Ungewissheit auch. Aber es gibt auch viel Positives. Deutschland ist besser als das meiste, was die Menschen aus ihrer Heimat kennen, sie leben in Sicherheit und für manche erfüllt sich sogar der Traum vom Neuanfang, mit einem Arbeitsplatz, neuen Freunden und einer Wohnung außerhalb der Flüchtlingsunterkunft.

Die Lalis reichen Klage gegen ihren Ablehnungsbescheid ein

Dauod Lali ist den Tränen nahe. Nach zwei Jahren in Deutschland ist der Arzt aus dem afghanischen Masar-e Scharif zermürbt. Das Asylgesuch der fünfköpfigen Familie wurde abgelehnt. Daoud und seine Frau Halima verstehen die Welt nicht mehr. „Wir können auf keinen Fall zurück nach Afghanistan“, sagt Dauod. „Der Daesch und die Taliban töten uns und wenn sie das mit einer Pistole tun, dann wäre das noch gut für mich“, sagt er mit brüchiger Stimme. Er und seine Familie gehören der ethnischen Gruppe der Hazara an, die in Afghanistan verfolgt wird.

Im Dezember 2016 erzählt Daoud, dass er viele Morddrohungen in seiner alten Heimat erhalten habe. „In dem Krankenhaus, in dem ich gearbeitete habe, haben die Taliban eine meiner Kolleginnen misshandelt und umgebracht, andere Kollegen wurden tagelang eingesperrt.“ Doch das Amt schreibt der Familie keine Flüchtlingseigenschaft zu – das bedeutet, dass offiziell nicht anerkannt wird, dass die Familie verfolgt wird. Man empfiehlt ihnen, sich innerhalb Afghanistans ein neues Zuhause zu suchen. „Ich glaube, der Übersetzer war schlecht und der Bearbeiterin war unser Anliegen egal,“ sagt der 43-Jährige. Daouds leerer Blick geht aus dem Fenster auf den schneebedeckten Tannenwald. Immer noch lebt er mit Halima und den drei Kindern in dem kleinen Dorf im Schwarzwald, in das er nach seiner Ankunft in der Stuttgarter Notunterkunft 2015 über Zwischenstopps in Karlsruhe und Ellwangen hingeschickt wurde.

Beschweren wollen sich die Lalis nicht. Zu groß ist ihre Dankbarkeit für die Sicherheit und Freiheit und auch für die herzliche Unterstützung der Menschen im Dorf. Sie haben viel Hilfe in den letzten Jahren von Privatpersonen bekommen – auch was das abgelehnte Asylgesuch angeht. Mit Hilfe einer Familie aus dem Ort haben sie Klage dagegen eingereicht und hoffen nun darauf, dass ihr Fall nach der erneuten Prüfung einen positiven Ausgang findet.

Daoud Lalis Rechtsanwalt Oskar Hahn ist optimistisch. „Der Fall der Familie ist beispielhaft. Es gibt viele Familien, denen es ähnlich geht. Wahrscheinlich ist, dass wir ein Abschiebeverbot erwirken können. Die Familie darf dann zwischen einem und drei Jahren hier bleiben. Diese Zeit werden sie nutzen, um sich noch besser zu integrieren. Das kann dann bei einer möglichen weiteren Prüfung vorgebracht werden und wirkt sich positiv aus. Eine Abschiebung ist unwahrscheinlich“, so Hahn.

Bestens integriert sind vor allem die Kinder. Die zwölfjährige Mariam geht aufs Gymnasium und singt im örtlichen Chor. „Ich will nicht zurück. Ich würde vielleicht irgendwann mal nach Afghanistan in den Urlaub, aber mehr nicht. Hier leben wir in Freiheit. Das ist viel besser“, sagt sie. Dann erzählt Halima, was ihre sechsjährige Tochter sagt, wenn sie im Fernsehen etwas Schlimmes sieht: „Sie sagt dann ‚Das ist Afghanistan, oder Mama?’“. Auch Halima kämpft mit den Tränen. Eigentlich wollte sie sich gar nicht mit uns treffen. Ihre Geschichte und die Ungewissheit sind für sie schwer zu ertragen. „Ich bin sehr traurig, weil ich nicht weiß, wie es weitergeht. Und für die Kinder ist das auch schlimm.“ Sie geht aus dem Zimmer.

Am Schluss vertraut uns Daoud an, dass der Alltag in dem kleinen Dorf, so abgeschieden von allem, sehr beschwerlich für die Familie ist. „Mariam geht aufs Gymnasium. Sie muss jeden Tag 30 Kilometer mit dem Bus fahren. Und wenn wir zum Deutschkurs gehen, müssen wir auch immer lange mit dem Bus fahren. Das kostet viel Geld und der Bus kommt auch nicht immer“, sagt er. Am liebsten würde er mit der Familie in einer größeren Stadt wohnen, weil sie dann viel selbständiger leben könnten. „Am liebsten in Stuttgart“, sagt Daoud und lächelt zum ersten Mal.

Im März 2018 hat die Familie einen Termin beim Gericht in Freiburg, danach gibt es vielleicht Gewissheit für die Lalis.

Die Erfolgsgeschichte von Ibrahim aus Aleppo geht weiter

Mitten in der Nacht lernen wir 2015 Ibrahim Ferik mit einem Deutschbuch in der Hand kennen. Der junge Syrer hat sich Wochen vorher alleine aus seiner zerbombten Heimatstadt Aleppo auf den Weg nach Deutschland gemacht. Den Krieg konnte er nicht mehr ertragen, auch nicht die Perspektivlosigkeit.

Zwei Jahre später treffen wir uns mit dem 31-Jährigen in einer Bar am angesagten Marienplatz. Ibrahim ist mittlerweile als Flüchtling anerkannt und Stuttgarter durch und durch. „Ich muss mehr Radfahren, das ist besser für die Figur und die Luft“, sagt er gut gelaunt. Manche würden ihn einen Vorzeigeflüchtling nennen. Ehrgeiz, Klugheit, Humor, Bildung und ein starker Charakter sind seine Begleiter, ebenso wie viele Ehrenamtliche. Ganz alleine ist Ibrahim in seiner neuen Heimat nicht. Seine Helfer wurden zu Freunden. Dafür ist er auch zwei Jahre später noch dankbar. „Ohne Hilfe geht es nicht“, sagt er 2016.

Stolz berichtet er in akzentfreiem Deutsch von seinem jüngsten Erfolg: Seit kurzem hat er eine Festanstellung als Entwicklungsingenieur bei einem Stuttgarter Unternehmen. „Besser geht es kaum. Ich bin sehr glücklich“, sagt er. Bereits zuvor hatte Ibrahim neben seinem Deutschkurs Jobs. Als Minijobber hat er etwa bei einem Modeunternehmen gearbeitet.

Von der Zeltstadt zog er in eine Flüchtlingsunterkunft und dann schnell in eine WG. „Da wohne ich immer noch und bin sehr zufrieden dort. Das ist etwas außerhalb der Stadt und ruhiger und ich bin schnell im Grünen. Das gefällt mir“, sagt er. Mit der Arbeitsstelle hat es auf der Jobmesse geklappt. „Ich bin dorthin, um mich zu informieren und habe dann gleich meinen Arbeitgeber kennengelernt. Jetzt mache ich ein Trainee-Programm und wachse langsam in die Stelle als Entwicklungsingenieur rein.“

Was in drei Jahren ist, wenn seine Aufenthaltsgenehmigung endet, das weiß Ibrahim natürlich nicht. „Darüber mache ich mir jetzt auch keine Gedanken. Das Wichtigste ist die Arbeit. Ich glaube, wer einen Arbeitsplatz hat, hat die besten Chancen, dauerhaft hier bleiben zu können.“ Und das ist sein größter Wunsch – auch wenn es hart ist, ohne die Familie. „Wir telefonieren alle zwei bis drei Tage. Ich bin sehr froh, dass es ihnen gut geht, auch wenn das Leben in Aleppo schwer ist“, sagt er. Und man kann nur vermuten, dass der junge Mann der Stolz seiner Familie ist. Ibrahim hat es geschafft.

Sakina lebt bereits in der fünften Unterkunft

Sakina Esmaily wohnt seit kurzem in Stuttgart-Zuffenhausen. Zwei Zimmer hat die Mutter für sich und ihre drei Kinder. Das Schlafen in Stockbetten und im Wohnzimmer sind die fünf bereits gewohnt. Auch, dass sie die Küche und das Bad auf dem Gang mit anderen teilen. „Es ist gut hier“, sagt Sakina. „Aber eine eigene Wohnung wäre besser“, so die ehemalige Offizierin aus Afghanistan. Es ist die mittlerweile fünfte Flüchtlingseinrichtung, die sie von innen kennt. Mit 30 anderen Familien leben sie nun zusammen. Von der Notunterkunft im Reitstadion, wo wir die junge Frau 2015 beim Frühstück kennenlernten, ging es für sie nach Wertheim, dann nach Stuttgart-Weilimdorf, dann ins ehemalige Bürgerhospital. Hier hat sie mit ihren drei Kindern bis zum Umzug nach Zuffenhausen zuletzt gewohnt. Sakina wünscht sich und ihren Kinder einen Ort mit mehr Privatsphäre. Abgesehen davon geht es der Familie ausgesprochen gut. Die Stimmung ist fröhlich. Es gibt Tee und Gebäck und es wird viel gelacht.

„Wir tragen kein Kopftuch mehr“, freut sich Sakinas älteste Tochter Mohadesha und erzählt von sich und ihrer kleinen Schwester, dass sie sich viel besser fühlten ohne das Kopftuch und am liebsten auf dem Stuttgarter Schlossplatz schlendern – „vor allem jetzt, wenn überall so viele Weihnachtslichter leuchten und die ganze Stadt geschmückt ist.“

Die 16-Jährige spricht sehr gut Deutsch und übersetzt vieles für ihre Mutter, die sich noch immer schwer tut mit der Sprache. „Jetzt haben wir keine Angst mehr vor den Taliban“, sagt die Jugendliche. Sakina hat ihr Kopftuch nicht abgelegt. „Nachbarn reden sonst schlecht“, sagt sie. Sie wolle keinen Ärger oder Anlass für Diskussionen liefern, deshalb trage sie das Kopftuch, nicht aus Überzeugung.

Angelegt hatte sie es ursprünglich aus Angst vor den Taliban. Deswegen sei sie auch geflohen. Als afghanische Offizierin wurde sie zur Zielscheibe. Jetzt sind sie in Deutschland sicher. Ein neues Lebensgefühl, das die Frau und ihre Kinder seit ihrer Ankunft genießen – und das seit Anfang 2016 auch mit Gewissheit. Da erreichte die Familie ihre Aufenthaltsgenehmigung. „Seitdem haben wir auch keine Angst mehr. Hier sind alle freundlich, es gibt kaum Gewalt, Männer und Frauen sind gleich, alles ist besser“, sagt Sakina. „Ich mache jetzt meine Mittlere Reife und danach will ich weitermachen“, erzählt Mohadesha stolz.

Nur das mit der eigenen Wohnung klappt noch nicht. Davon können viele in Stuttgart ein Lied singen. Sakina und ihre Kinder sind angekommen – auch beim Thema Wohnungssuche in Stuttgart.