Die Würde Homosexueller blieb sehr lange antastbar. Seit 1979 wird in Stuttgart gegen Ausgrenzung demonstriert, damals noch gegen den Paragrafen 175. Vor dem CSD erinnern wir an die Anfänge des Kampfes für gleiche Rechte von queeren Menschen.
Dass sich eines Tages ein Bundespräsident öffentlich für das Unrecht entschuldigen würde, das der Staat Schwulen und Lesben auch nach Ende der NS-Zeit angetan hat, hätte sich am 30. Juni 1979 wohl keiner der etwa 400 Demonstranten vorstellen können. Dieses Datum markiert in Stuttgart den Beginn der CSD-Geschichte. Auf dem Schlossplatz trug eine zierliche Dame mit weißen Haaren ein Schild, auf dem stand: „Mein Sohn ist schwul! Na und!“
Eine Forderung lautete: Abschaffung des Paragrafen 175
Zehn Jahre nach dem Aufstand der Schwulen gegen Polizeiwillkür auf der Christopher Street in New York sind 1979 die ersten Stuttgarterinnen und Stuttgarter für „Homobefreiung“ auf die Straße gegangen. Sie forderten die Abschaffung des Paragrafen 175, der aus dem Kaiserreich stammt und 1973 reformiert, aber nicht gestrichen wurde. Sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren waren nach der Reform weiterhin strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung ist der Paragraf 175 aufgehoben worden.
Weitere Demos folgten in den Jahren 1985, 1994, also unregelmäßig, ehe im Millennium-Jahr der Ansturm in Stuttgart so groß war, dass der CSD von da an jährlich samt Parade, wie man damals sagte, gefeiert wurde. Den Veranstaltern heute gefällt das Wort Parade nicht, sie sagen Demonstration. Es gehe nicht um Party, betonen sie immer wieder, sondern um politische Forderungen.
1994 hatte es OB Manfred Rommel abgelehnt, Schirmherr des CSD zu werden. „Die Frage der Zuneigung“ sei „eine Privatsache“, erklärte er damals. In den Stuttgarter Nachrichten stand über den Protest der Schwulen und Lesben: „An der Kronprinzstraße versammelte sich ein buntes Völkchen. Einige hatten sich als Nonnen verkleidet, die Kondome warfen. Wilde Tänze zur Musik von Boy George. Mit Sicherheitsabstand verfolgten neugierige Passanten das Schauspiel.“
Große Angst vor Aids
Mit dabei war die Aids-Hilfe, die 1985 in Stuttgart gegründet wurde. Der 5. Juni 1981 gilt als der Tag, an dem Aids bekannt wurde. An diesem Tag berichteten Wissenschaftler im Report der US-Gesundheitsbehörde von fünf jungen homosexuellen Männern, die an einer extrem seltenen Art der Lungenentzündung litten. Im April 1983 erschien ein Faltblatt der Szene-Zeitung „Schwulst“ in Stuttgart, das sich mit der mysteriösen Krankheit beschäftigte. Darin hieß es: „Auf Grund der Art des Auftretens der Krankheit schließt man einen virusähnlichen Erreger nicht aus. Hauptsächlich sind homosexuelle Männer betroffen, die viele Partner hatten.“
Auf Einladung von Buchhändler Thomas Ott trafen sich im Oktober 1984 etwa 25 Personen im Liberalen Zentrum. „Damals war das Ausmaß der Aids-Krise noch nicht klar“, schrieb Ott später im „Rainbow“, dem Magazin der Aids-Hilfe, „wir konnten aber spüren, wie Boulevard-Blätter Aids als Aufhänger nutzten, um schwules Leben zu diffamieren.“ Bei dem Treffen beschloss man, ein Beratungstelefon einzurichten. Die Angst war allgegenwärtig. Etliche Anrufer hatten Symptome wie geschwollene Lymphknoten bei sich festgestellt und glaubten, an Aids erkrankt zu sein. Es herrschten bizarre Ansichten über die Ansteckungsgefahren.
Der frühere OB Fritz Kuhn (Grüne) im Juli 2015 bei der Stuttgarter CSD-Demo. Foto: 7 aktuell
Bis der Paragraf 175 abgeschafft wurde, die Ehe für alle kam und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Homosexuelle öffentlich um Vergebung bat, mussten viele Menschen auf die Straße gehen. Lange dauerte es, bis ein Oberbürgermeister von Stuttgart beim CSD mitfuhr: Es war Fritz Kuhn (Grüne), den man 2015 auf dem Wagen seiner Partei sah. Sein Nachfolger Frank Nopper (CDU) lehnte die Teilnahme zuerst ab, ist in diesem Jahr aber erstmals auf dem Truck des VfB dabei. Von CSD zu CSD ist die Zahl der Formationen immer weiter angestiegen. Im Jahr 2024 sind es mehr als 150 – mehr als je zuvor.
Motto für die Pride 2024: „Vielfalt leben – jetzt erst recht“
Bei aller Partystimmung – es geht vor allem um Politik. Die Veranstalter befürchten, dass sich die Gesellschaft „zurückbewegt“, weil sich die Fälle von Hasskriminalität gegen queere Menschen in Deutschland häuften, auch in Stuttgart und in der Region. Deshalb sei es wichtig, die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft zu stärken und gemeinsam mit Heterosexuellen für das Pride-Motto zu werben: „Vielfalt leben – jetzt erst recht.“ Die Botschaft also lautet: Wir sind eins – und alle dürfen so sein, wie sie sind.