Bevor der Charlottenplatz ein mehrgeschossiger Verkehrsknoten wurde, war er ein idyllischer Platz mit Bäumen und Brunnen. Der radikale Umbau für Autos hat 1962 begonnen. Wir blicken auf einen Schauplatz mit Geschichte.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Was steht da zwischen zwei Bäumen am unteren Rand des alten Fotos vom Charlottenplatz? Ist es ein Marktstand? Ein Kiosk? Ein Toilettenhäuschen? Es ist ein Pissoir! Nur Männer konnten hier austreten. Für die Frauen gab’s keine derartige Vorrichtung. Bei diesem Foto, das über hundert Jahre alt ist, denkt Gisela Salzer-Bothe im Facebook-Forum unseres Stuttgart-Albums an eine Geschichte ihrer Mutter von der Schulstraße zurück: „Wenn die Marktfrauen dort vor den Auslagen der Schaufenster länger standen und dann weggingen, war eine deutliche ,Markierung’ zu sehen. Sie hatten lange Röcke an.“

 

In der linken Bildhälfte, versteckt hinter Bäumen, lugt das Wilhelmspalais hervor, das heute unter dem Namen Stadtpalais das Stuttgart-Museum beherbergt. Wer den Charlottenplatz von früher sieht, erkennt Stuttgart kaum wieder.

Bis 1915 befand sich das Kriegsministerium am Charlottenplatz

Immer wieder liest man, der Charlottenplatz sei nach der letzten Königin von Württemberg benannt. Namensgeberin war jedoch Charlotte Auguste von Bayern. Den Kronprinzen Wilhelm I. hatte sie nicht aus Liebe geheiratet. „Wir sind Opfer der Politik“, soll dieser bei der Trauung mit gleichgültiger Miene zu ihr gesagt haben. Die Ehe hielt nicht lang. Charlotte wurde nach ihrer zweiten Hochzeit Kaiserin von Österreich – ihr Ex Wihelm I. heiratete seine große Liebe Katharina, bevor er König geworden ist.

Bis 1915 befand sich auf dem Charlottenplatz das Kriegsministerium von Württemberg – räumlich dort, wo heute Zahnärzte im Hochhaus gegen Karies und Parodontose ins Feld ziehen. Das Alte Waisenhaus auf der anderen Seite beherbergte im 18. Jahrhundert Kinder, bevor es 1925 zum Sitz des Instituts für Auslandsbeziehungen wurde.

Automaten-Gaststätte waren vor über 100 Jahren in Stuttgart beliebt

Auf einem der alten Foto sieht man, wie „Automat“ auf dem rechten vorderen Gebäude, dem Charlottenbau, stand, an dessen Stelle sich heute ein Hochhaus befindet. Nein, es gab damals noch keine Flipper und einarmige Banditen – nicht das Automatenspiel ist gemeint. Es handelt sich um eine Automaten-Gaststätte, die vor über 100 Jahren beliebt war. Wer ein „Zehnerle“ einwarf, bekam Bier, Limonade, belegte Brötchen oder Kuchen aus dem Automaten-Büfett. Den Stuttgarterinnen und Stuttgartern gefiel es, wenn dank moderner Technik ein genau festgelegter Strahl die Gläser füllte. Automaten-Gaststätten gab es außerdem auf dem alten Postplatz, beim Rathaus und auf der Schlossstraße.

Kino der Familie Colm befand sich von 1946 bis 1968 im Alten Waisenhaus

Im Alten Waisenhaus befand sich von 1946 bis 1968 das Planie-Kino der Familie Colm. Hier am Charlottenplatz hat sich Erwin Russ 1945 mit seiner Konzertdirektion selbstständig gemacht. Ob Anne-Sophie Mutter, Duke Ellington oder die Berliner Philharmoniker – seit 78 Jahren prägt die Familie Russ vom Charlottenplatz aus die Veranstaltungslandschaft in Stuttgart.

Der 2. Juli 1962 ist ein historisches Datum in der Stadtgeschichte. An diesem Tag wurde auf dem Charlottenplatz der erste Spatenstich für das neue Tunnelreich gefeiert. Es folgte eine „Operation am offenen Herzen“, wie es damals hieß. Stuttgart war jahrelang eine Baustelle – wie man es heute wegen Stuttgart 21 kennt. Die radikale Neuordnung mit Quer- und Längslinien für Autos und Straßenbahnen begann.

1963 begann Schwabenbräu damit, ein Hochhaus mit elf Stockwerken zu errichten. In den 1980ern hat die Brauerei das 43 Meter hohe Bauwerk an einen Geschäftsmann aus dem Schwarzwald verkauft. Heute werden darin Zähne aufgehellt. Wenn man nur einen alten und verbauten Platz so schnell verschönern könnte wie Zähne beim Bleachen.

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