Das Musical feiert den 25. Geburtstag in Stuttgart. Unser Stuttgart-Album erinnert an die erste Nacht von „Miss Saigon“ am 2. Dezember 1994. Die Show blieb fünf Jahre im SI-Centrum – so lange wie kein anderes Stück seitdem.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Es schien, als wolle die Politik die zierliche Miss Saigon gleich in der Premierennacht zur Ehrenbürgerin Stuttgarts ernennen: Die Honoratioren verneigten sich vor dem horizontal tätigen Barmädchen wie vor einer Heiligen, als sie am 2. Dezember 1994 zum ersten Mal auf der nagelneuen Bühne in Möhringen gesungen, geliebt, geweint und als sie in den Armen von ihrem GI Chris gestorben ist. Klebrig-süß erklang das Solo-Saxofon.

 

Für das Bild, das die Nation bis dato von den Schwaben hatte, war die knallrote Smoking-Jacke von Musicalgründer Rolf Deyhle bei der Premiere etwas zu heftig. Doch alle sollten sehen: Mit „Miss Saigon“ ist die große Welt in Stuttgart angekommen. Nicht nur mit seiner Kleidung trug der Unternehmer dick auf. Mit 1500 Magnumflaschen Champagner, 33 Tonnen Meeresfrüchten und übervollen Büffets sollte vor 25 Jahren schwäbischer Geiz widerlegt werden. „Man vergisst, dass man bei Schwaben ist“, schrieb Klatschkolumnist Michael Graeter in der „Bunten“. Noch frühmorgens fand er „gefüllte Töpfchen mit Kaviar“ vor. Geklotzt statt gekleckert wurde: Die Produktionskosten der Show betrugen 20 Millionen Mark – so viel, wie nie zuvor bei einem Musical in Deutschland.

Uwe Kröger und Aura Deva wurden zum Musical-Traumpaar

Kritiker und Freunde der „hohen Kunst“ warnten vor kulturellem Fast Food. Stadtwerber indes freuten sich. Ein Jahr, nachdem der Hubschrauber von Saigon auf der Bühne zu knattern begann, stiegen die Hotelübernachtungen um 20 Prozent. Das Leben des früheren Finanzbeamten Rolf Deyhle liefert mit Aufs und Abs bis zu seinem Suizid 2014 Stoff für die Bühne. Den Musical-Boom in Deutschland löste er mit aus, die Fußball-WM machte er profitabel, rutschte dann aber mit der Stella AG in die Insolvenz.

Das Wort „Hollywood“ – oder auch nur ein Hauch davon – fiel in der Berichterstattung nach der Dezember-Premiere anno 1994 oft. Gepanzerte Limousinen waren direkt vors Theater gefahren. Im Blitzlichtgewitter entstiegen prominente Gäste, darunter Entertainerin Caterina Valente, Sänger Howard Carpendale und Produzent Cameron Mackintosh. Zwischen Feuerschalen schritten sie auf dem roten Teppich in den neuen Musentempel. Uwe Kröger und Aura Deva spielten die Hauptrollen und wurden zum Traumpaar des Stuttgarter Musicals. Kröger ist noch heute auf den Bühnen viel beschäftigt, war in Stuttgart etwa im Musical „Die Päpstin“ zu sehen. Aura Deva besuchte vor zehn Jahren zuletzt das SI-Centrum. Sie kam aus London, wo sie damals spielte und bestellte in Stuttgart erst ihre geliebten Kässpätzle.

Seit 1994 waren 24 Musicals in Stuttgart zu sehen

„Du die Sonne und ich der Mond“, hatten Kröger und Aura Deva schmachtend gesungen. Ihr Stück schaffte, was danach keines mehr geschafft hat: Fünf Jahre lang blieb es auf den Fildern. Deyhle dachte eigentlich an zehn Jahre. Seit 1994 sind 24 Musicals im SI-Centrum – 1997 kam auf der anderen Straßenseite ein zweites Theater hinzu – gespielt worden. Über 21 Millionen Menschen haben in dieser Zeit 17 000 Shows besucht. Die Stoffe wechseln immer schneller. „Ghost“ zieht bereits nach fünf Monaten weiter.

Bereits im April hat die Stage Entertainment den 25. Musicalgeburtstag mit einer Benefizgala gefeiert, weshalb zum eigentlichen Jubiläum am 2. Dezember keine Sonderveranstaltung mehr stattfindet. Auch wenn die Verkaufszahlen der verschiedenen Musicals das Geschäftsgeheimnis des Marktführers bleiben und sich der Erfolg oder Misserfolg nicht immer an Laufzeiten ablesen lässt (manche Shows werden länger gespielt, sind aber schwach besucht), so sind die Tops und Flops leicht auszumachen.

Im Herbst 2020 feiert „Miss Saigon“ ihr Comeback in Wien

Klare Nummer eins, was die Anzahl der Shows angeht, ist das Musical „Tanz der Vampire“, das es in drei Spielzeiten zusammengerechet auf 2299 Aufführungen gebracht hat. Im April 2020 startet die vierte Spielzeit des Kassenknüllers. Auf Platz zwei in den Charts aller Stücke steht „Miss Saigon“.Von 1994 bis 1999 gab es 2085 Vorstellungen mit dem Solosaxofon und dem Hubschrauber. Platz drei belegt die Abba-Show „Mamma Mia“ mit zwei Spielzeiten und insgesamt 1918 Aufführungen. Noch etliche Darsteller der ersten Cast von „Miss Saigon“ leben und arbeiten heute in Stuttgart.

Nachdem die Vereinigten Bühnen von Wien für den Herbst 2020 eine „spektakuläre Neuinszenierung“ des Vietnam-Epos angekündigt hat, fragt man sich in Stuttgart: Kehrt die Show auch an den Ort ihrer deutschen Premiere zurück?

Diskutieren Sie mit unter: facebook.com/Album.Stuttgart. Zu unserer Geschichtsserie „Stuttgart-Album“ sind drei Bücher erschienen.