Kehren die autofreien Sonntage zurück? Wegen des Krieges in der Ukraine und der hohen Spritpreise wird eine alte Idee neu diskutiert. Unser Stuttgart-Album erinnert an leere Straßen von 1973.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Aus Autobahnen wurden Fußgängerzonen. Wanderer hatten ihren Spaß, den Asphalt zu übernehmen für eine Rucksacktour mit Picknick auf dem Seitenstreifen. Auf Bundesstraßen sah man Radfahrer oder junge Leute auf Rollschuhen. Durch Stuttgarts Innenstadt cruisten Pferdekutschen. Fast 50 Jahre ist das nun her.

 

Die Scheichs hatten dem Westen den Ölhahn zugedreht und den Deutschen damit zu ungewohnten Freizeiterlebnissen verholfen. In einer Fernsehsprache erklärte Bundeskanzler Willy Brandt der autovernarrten Nation eindringlich: „Wir sparen dort, wo wir es uns leisten können zu sparen: im privaten Bereich, der 40 Prozent des Energieverbrauchs ausmacht.“ Für den 25. November 1973 rief der SPD-Politiker den ersten von vier autofreien Sonntagen aus.

An Tankstellen hieß es: „Benzin ausverkauft“.

An etlichen Tankstellen hieß es damals in Stuttgart: „Benzin  ausverkauft.“  Der Liter Benzin kostete, sofern vorhanden,  damals in der Ölkrise 69,4 Pfennig (Normal), 76,9 (Super) und Diesel (70,6). Was ein Leben ohne Autos bedeutet, konnte an vier Sonntagen getestet werden – als die Gefahren des Klimawandels noch kaum ein Thema waren. Es sah so aus, als würden die Menschen damit zurechtkommen.

Keine Proteste gab es, keine Transparente, keine verzweifelte Suche nach Taxis. Vom sonntäglichen Fahrverbot ausgenommen waren Busfahrer, Rettungskräfte, Ärzte, Diplomaten, Milchlaster-Fahrer und weitere für die öffentliche Sicherheit wichtige Personen. Wer sich an den vier autofreien Sonntagen ohne Sondergenehmigung ans Steuer setzte, musste eine saftige Strafe von 500 D-Mark bezahlen. Doch Bußgelder mussten kaum verhängt werden. Der Bundestag beschloss obendrein ein Tempolimit: Auf Land- und Bundesstraßen durfte man nur noch 80 Spitze fahren, auf den Autobahnen 100 Stundenkilometer.

Umweltministerin Thekla Walker für autofreie Sonntage

Die russische Invasion hat die Diskussion übers Energiesparen neu entfacht. Es reiche nicht aus, sich mit No-war-Transparenten an den Eckensee zu stellen, ist zu hören, oder Kerzen nachts auf dem Schlossplatz anzuzünden, sondern man müsse auch geballt Verzicht leisten. Die baden-württembergische Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) hat sich bereits für autofreie Sonntage ausgesprochen, mit denen man den Spritverbrauch drosseln und die Abhängigkeit von Russland verringern könne. Auf ein starkes Zeichen der Solidarität komme es jetzt an! Obendrein wäre die zeitweise Auto-Abstinenz für die Umwelt gut.

Was ist also zu tun? Hitzig wird darüber im Internetportal unseres Stuttgart-Albums diskutiert. Harry Spielvogel schreibt: „Verzichten ja, aber auf russisches Öl, Gas und auf russische Kohle. Auch wenn’s (finanziell) wehtut. Wir müssen aufhören, die russische Kriegsmaschinerie zu finanzieren.“ Matthias Haeusser kommentiert: „Besser jetzt SUVs verbieten. Hat vor 50 Jahren keiner vermisst.“ Attila-Zsolt Szegedi erklärt: „Was für ein Schwachsinn! Wir sollen auf das Auto verzichten, damit wir kein Gas aus Russland bekommen. Und dann holen wir das teuere Gas aus den USA. Ein Schiff verbraucht für die Überfahrt von Amerika nach Europa so viel Kraftstoff wie fünf Millionen Autos.“

„Der Sonntag erhält etwas von seiner ursprünglichen Bedeutung zurück“

 Susanna Kaah postet in unserem Facebook-Forum: „Ich würde gerne auch mal auf der A 8 spazieren gehen!“ Und Marina Ma erinnert sich: „Wir waren Teenager und hatten einfach nur Spaß auf den meist leeren Straßen. Damals hatte es allerdings keinen Krieg als Hintergrund. Corona und nun noch dieser unsinnige Krieg. Einfach schlimme Zeiten! Ich als Laie wüsste nicht, was das Beste im Moment ist. Schlecht wäre es aber sicher nicht, das Auto mal stehen zu lassen.“

In einem weiteren Kommentar heißt es: „Ich finde die autofreien Sonntage nicht nur wegen der Unabhängigkeit von Russlands Energielieferungen sinnvoll, sondern auch aus ökologischen Gründen und vor allem zur Förderung von mehr Gemeinsinn und auch zur Rückbesinnung auf Entschleunigung des Alltags ganz interessant. Damit erhält auch der Sonntag etwas von seiner ursprünglichen Bedeutung zurück. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass gerade die jüngere Generation damit viel besser umgehen kann als die älteren. 1973 hat keiner einen Schaden davongetragen. Und die vielen Radler würden es lieben!“

Auf der Königstraße fuhr eine Pferdekutsche

Sigrid Vollmer hat vom ersten autofreien Sonntag im November 1973, es war der Totensonntag, unserem Stuttgart-Album Fotos geschickt, auf denen eine Pferdekutsche auf der Königstraße zu sehen ist, aber keine Autos. Passanten schauen neugierig zu. Die zentrale Straße der Stadt war noch keine Fußgängerzone. Doch an diesem Tag hatten nicht Autos Vorfahrt, sondern Fußgänger und Pferde.

„Die autofreien Sonntage von 1973 waren reine Symbolpolitik“, erklärt Rüdiger Graf vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Der tatsächliche Einspareffekt sei viel niedriger gewesen als erwartet. Für bedeutsamer hält Graf die öffentlichkeitswirksam inszenierte Geste: „Wir können auch ohne euer Öl – das war die Botschaft!“

Diskutieren Sie mit unter: www.facebook.com/Album.Stuttgart. Wer mehr zur Stadtgeschichte erfahren will, kann den Newsletter „StZ Damals“ kostenlos abonnieren unter: https://www.stuttgarter-zeitung.de/newsletter.