Man nannte sie „Königin der Altstadt“ und „Mutter der Schwulen“: Mit Humor, Herz und Hilfsbereitschaft hat Anni Heinrich Stuttgarts Rotlichtviertel geprägt, Da ihr Goldener Heinrich nun geschlossen ist, erinnern sich viele an bessere Zeiten – an eine starke Frau.
Bei ihr fühlten sich Schwule wohl, zu Zeiten, als Liebe unter Männer verboten war, aber auch Frauen, die völlig frei von Liebe ihre sexuellen Dienstleistungen angeboten haben – der Straßenstrich war damals im Leonhardsviertel gängige Praxis. Die 1898 geborene Anni Heinrich war bekannt für ihr großes Herz. Ihr Lokal stand offen für alle, die vor Diskriminierung sicher sein wollten.
„Meine Großmutter“, sagt ihr heute 70-jähriger Enkel, „war die einzige Frau, die mit einer Tasche voller Geld durch die Altstadt laufen konnte, ohne dass sie überfallen wurde.“ Der Respekt, den sie genoss, war in einer damals von Männern dominierten Gastronomenwelt groß. Ihre Bar hieß Goldener Heinrich, nach ihr benannt. 1967 hatte sie das Haus mit dem Lokal gekauft.
Bis zu ihrem 91. oder 92. Geburtstag arbeitete „die Anni“, wie alle sie nannten, dann stürzte sie, erlitt einen Oberschenkelhalsbruch und wurde von Verwandten gepflegt, berichtet der Enkel: „Zu ihrem 99. Geburtstag ließ sie sich zum Feiern in ihre Bar fahren. 100 durfte sie nicht mehr werden.“
Frühmorgens gab’s ihre berühmte Stiersuppe
Seit einigen Wochen ist der Goldene Heinrich mit dem rustikalen Ambiente an der Leonhardstraße 3 geschlossen. Für den letzten Pächter haben sich die Geschäfte nicht mehr gelohnt. Das Rotlichtviertel hat sich seit Annis Zeiten völlig geändert. Der Hauseigentümer, berichten Wirte, denen das Lokal angeboten wurde, sucht neue Pächter, hat sich bisher aber viele Absagen geholt. Man muss viel investieren, unter anderem in die Elektronik. Weil die Zukunft dieser Traditionsgaststätte ungewiss ist, werden Erinnerungen an bessere Zeiten wach – an Zeiten, als die „Königin der Altstadt“ und die „Mutter der Schwulen“, wie man Anni Heinrich nannte, das Rotlichtviertel prägte.
Noch heute erzählt man sich im Viertel, wie hilfsbereit die Wirtin war. Der Goldene Heinrich gehörte ihr, gleichzeitig hatte sie aber auch von einer Brauerei das Frühlokal Schiller einige Schritte weiter gepachtet. Früh morgens habe sie Menschen, die Hunger hatten, aber kein Geld, eine Nudelsuppe für umme zubereitet, erzählt man sich noch heute. Ihre Spezialität sei die „Stiersuppe“ gewesen, der die Wirkung einer „Auferstehungsbrühe“ nachgesagt wurde. Diese Suppe bekamen Menschen, die „stier“ waren, deshalb der Name.
Weit über 80 Beiträge über Anni auf der Internet-Seite des Stuttgart-Albums
„Der Anni gehört ein Stern im Boden der Leonhardstraße, man sollte für sie eine Statue im Viertel aufstellen“, schreibt ein Kommentator im Internet-Portal unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album. Ein weiterer Zeitzeuge notiert: „Wir waren immer gern bei Anni im Schiller zum Frühstück, eine Frau mit viel Herz und Wärme.“ Weit über 90 Beiträge zu Anni wurden innerhalb von kurzer Zeit auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums gepostet.
Sie trug oft Kittelschürze – und war immer gepflegt
Jeden Tag sei die resolute Anni Heinrich beim Friseur gewesen, berichtet ein früherer Pächter. „Wegen der vielen Arbeit trug sie oft Kittelschürze, war aber immer gepflegt.“ Der Enkel der „Altstadt-Königin“ erinnert sich: „Der Goldene Heinrich war in der Zeit, in der meine Großmutter das Lokal betrieben hat, natürlich ein Schwulentreff, aber nicht nur das. Er war ein gemütliches Lokal inmitten der Altstadt, indem man gut schwäbisch essen konnte – nicht zu vergleichen mit den Animierlokalen der Umgebung.“ Was heute die Wirtin und Stadträtin Laura Halding-Hoppenheit ist, war die Anni früher: die „Mutter der Schwulen“. In den Goldenen Heinrich kamen auch gern Prostituierte, um sich mal von den Freiern auszuruhen – bei Anni und den Homosexuellen ging das gut.
Bevor das Lokal zum Goldenen Heinrich wurde, befand sich darin eine Mostwirtschaft sowie die Weinstube Schlitter. Eine Userin berichtet unserem Stuttgart-Album: „Das war vor allem ein Treff für arme Künstler, die die Wirtsleute, also meine Urgroßeltern, manchmal auch in Naturalien bezahlt haben, also ihren Bildern. Ich selbst habe noch welche davon, eines hat bei uns im Wohnzimmer einen Ehrenplatz.“
Eine weitere Kommentatorin schreibt: „Als kleines Kind, etwa mit drei Jahren, irgendwann in den 70ern, war ich mit meinen Eltern bei Anni. Ich erinnere mich noch, es muss spät nachts gewesen sein, sicher so gegen drei Uhr, da kam die Polizei, und die Bedienung hat mit mir das Versteck-Spiel gespielt: Ich musste mich unter den Bänken verkriechen und leise sein, sie brachte mir Sachen zum Malen. So bewahrte sie meine Eltern vor Strafe.“
Immer wieder Kontrollen der Polizei
Ein anderer Zeitzeuge erinnert sich, wie streng die Polizei den Goldenen Heinrich kontrolliert – damals galt der Paragraf 175, der Beziehungen unter Männern unter Strafe stellte. „Einmal haben zwei Männer das Lokal verlassen“, erzählt er, „Beamte haben sie verfolgt, als die beiden später auf einer Bank Händchen gehalten haben, hat man ihre Personalien aufgenommen.“ Im Goldenen Heinrich, erzählt man sich, sah man viele bekannte Fernsehgesichter vom Südfunk oder den Schauspieler Thomas Fritsch.
Vor ihrer goldenen Zeit in der Altstadt von den 60ern bis zu 90ern arbeitete die gelernte Kellnerin in der Bar Helgoländer in den Vereinigten Hüttenwerke. Als sie 1997 mit 99 Jahren starb, und in Ammerbuch-Altingen beerdigt wurde, dort, wo sie herkam, war in der Zeitung zu lesen: „Morgens um sechs öffnete sie noch im hohen Alter persönlich den Schiller, um die ersten Gäste einzulassen: Obdachlose, Sozialhilfeempfänger, Zuhälter, Prostituierte.“ Der frühere StN-Kolumnist Joe Bauer schrieb: „Die Tage, als im Milieu Fettaugen in der Brühe schwammen, waren endgültig vorbei.“
„Heute würde sie sich im Grab umdrehen“
Anni liebte das Leben, erfreute mit ihrem trockenen Humor ihre Gäste, blieb bescheiden und war immer zur Stelle, wenn es einem schlecht ging. Nach ihrem Tod hat ihr Enkel 2003 das Haus an einen Unternehmer in Metzingen verkauft. Die Stadt hatte sich damals nicht dafür interessiert.
Im Internetportal unseres Stuttgart-Albums merkt ein Kommentator an: „Die gute alte Dame, Gott habe sie selig, würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie den Schiller und das ganze Städtle heute sehen würde.“