Weil sein Gebäude am Hirschbuckel mit der Fritty-Bar abgerissen wird, rückt Paul Stohrer, der Architekt des Wirtschaftswunders, in den Fokus. Wir erinnern an den Rathaus-Erbauer und verraten, was im Neubau an der Königstraße 51 geplant ist.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Dass es an dieser zentralen Ecke der Innenstadt, wenige Schritte vom Tagblattturm entfernt, keine belgischen Fritten mehr gibt (die Fritty-Bar musste zum 1. Juli schließen), haben Imbissfans mehrfach angeprangert und sogar eine Petition dagegen initiiert. Kreativdirektor Johannes Milla, der Chef von Milla & Partner, hält einen weiteren Verlust für noch schwerwiegender: Mit dem Abriss des fast 70-jährigen Gebäudes Hirschbuckel, das zur Königstraße gehört, verschwinde ein keineswegs unbedeutendes Werk des „großen Stuttgarter Architekten Paul Stohrer“. Leider stehe das Haus nicht unter Denkmalschutz, bedauert Milla, „obwohl es eine Architekturikone des sogenannten Brutalismus ist“. Weltweit werde dieser Baustil der 50er und 60er Jahre, mit dem meist graue, aber funktionale Betonschwergewichte gemeint sind, auch heute noch geschätzt, „trotz und wegen aller Hässlichkeit“.

 

Mit dem Abriss soll 2023 begonnen werden

Erhalten lässt sich das Hirschbuckel-Gebäude von Paul Stohrer, von dem in Stuttgart auch das Rathaus, das frühere Radiohaus Barth, die Mausefalle und das Hofbräu-Eck stammen, aus Sicht der Stinag AG als Eigentümerin nicht. „Die grundsätzliche Notwendigkeit einer umfassenden Baumaßnahme steht aufgrund der schlechten Gebäudestruktur und der immer schwerer erfüllbaren Brandschutz- und Sicherheitsauflagen schon länger fest“, teilt das Unternehmen mit. Mit dem Abriss soll 2023 begonnen werden. Der Siegerentwurf bei einem Wettbewerb unter fünf Büros – gewonnen haben die Wittfoht Architekten aus Stuttgart – soll bis Ende 2025 realisiert sein. „Ein selbstbewusster und unverwechselbarer Neubau“ werde hier an der Königstraße 51 entstehen. Geplant sind „eine reliefartig proportionierte Fassade mit geschossweise versetzten Erkern aus Glas“, ein Dachgarten, der allen Mietern zur Verfügung steht, Einzelhandel im Erdgeschoss, Büros und Praxen darüber sowie ein Club oder eine Bar im Untergeschoss – dort, wo sich einst das AT und das Roxy befanden.

„Zweifellos ist das kein schönes Gebäude, aber ein wichtiges“

Der in Stuttgart 1909 geborene Paul Stohrer, der 1975 im Alter von 65 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist, wird an dieser Stelle nicht mehr vertreten sein. Die Astabdrücke im Sichtbeton am Hirschbuckelhaus galten bei Fertigstellung in den 50ern als organisch und handwerklich perfekt umgesetzt. „Zweifellos ist das kein schönes Gebäude“, sagt Johannes Milla, „aber ein wichtiges.“ Obendrein stehe es gleich neben dem Kaufhof, also auf dem Grundstück des früheren Kaufhauses Schocken, das in der Stadtgeschichte mit seinem Abriss im Jahr 1960 für ein unrühmliches Kapitel steht. Die Stadtplaner fanden damals, es passe nicht mehr in die Zeit – das Schocken musste Platz machen für eine breitere Straße.

Für Erwin Lehn baute er eine Villa in Formen eines Flügels

Zu den Auftraggebern Paul Stohrers zählten die Schauspielerin Margot Hielscher, die in München einen Bungalow von ihm bekam, der Fabrikant Gottlieb Bauknecht, der sich ein Landhaus auf einem früheren Weinberghang wünschte, sowie Erwin Lehn, der langjährige Chef des SDR-Tanzorchesters, dem er in Schönberg eine Villa in Form eines aufgeklappten Flügels gebaut hat, die heute unter Denkmalschutz steht. Für den Psychiater, Kunstsammler und Filmemacher Ottomar Domnick entwarf er ein „bewohnbares Museum“ bei Nürtingen, das inzwischen samt Mobiliar und Bildern in den Besitz der Staatsgalerie übergegangen ist. Andere Stohrer-Bauten wie Radio Barth am Rotebühlplatz oder das Iduna-Hochhaus am Hauptbahnhof sind längst abgerissen.

Auch als Person fiel der Architekt des Wirtschaftswunders auf: Stohrer fuhr einen Mercedes-Flügeltürer 300 SL, trug schnieke Anzüge, kam aber zu Vorlesungen an der Staatsbauschule, wo er von 1959 bis 1972 Professor war, auch mal im Tennisdress.

Vergangenes sollte nicht nachgeahmt werden

Der 4. Mai 1956 war ein besonderer Tag für ihn: 800 Menschen versammelten sich im Gustav-Siegle-Haus, darunter Bundespräsident Theodor Heuss, um nach etlichen Reden gemeinsam auf den Marktplatz zu marschieren. Dort wurde das neue Rathaus nach den Plänen von Stohrer und Hans Peter Schmohl eröffnet. Die beiden wollten „ein Bekenntnis zum neuen Bauen“ ablegen. Auch auf Wunsch von OB Arnulf Klett sollte Vergangenes nicht nachgeahmt werden, um keine Übereinstimmungen mit dem Nazireich in der neuen Zeit zu schaffen. So entstand der Marktplatzflügel schnörkellos. Der rückwärtige Teil wurde instand gesetzt und aufgestockt. Paul Stohrer hat die Stuttgarter Baugeschichte nach dem Krieg entscheidend mitgeprägt. Je mehr bauliche Zeugnisse des alten Meisters verschwinden, desto stärker rücken heute seine Qualitäten in den Fokus.

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