„Nabel der Schwaben“ hat Paul Bonatz seinen Bahnhof genannt, in den am 23. Oktober 1922 der erste Zug gefahren ist. Jetzt feiert ein Meisterwerk der Architektur den 100. Geburtstag. Erinnerungen an historische Stationen eines höchst emotionalen Orts.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Wir blicken zurück auf die wilden Jahre der Avantgarde, der Provokation, der kulturellen Experimente und des Neuanfangs. Nach dem Ersten Weltkrieg wollen sich die Menschen aus Not und Angst befreien. Die Goldenen Zwanziger prägen Stuttgart bis heute architektonisch. Am Vormittag des 23. Oktober 1922 – es ist ein Montag – strömen die Bürgerinnen und Bürger, um einem großen Ereignis beizuwohnen. Jahrelang konnten sie den Fortschritt einer markanten Baustelle miterleben, an der vorbei die Züge in den alten Centralbahnhof unweit des Neuen Schlosses gefahren sind. Nun endlich werden die Gleise 9 bis 16 mitsamt dem Südflügel eröffnet. Dies ist gleichzeitig der Startschuss für den Abbau der alten Gleisanlage bis zur heutigen Bolzstraße. Im Mai 1925 gehen die Gleise 5 bis 8 in den Betrieb, im Dezember die Gleise 1 bis 4.

 

Die Idee vom Durchgangsbahnhof wird verworfen

Paul Bonatz ist 33 Jahre alt, als er sich 1910 mit seinem Kollegen Eugen Scholer im Architektenwettbewerb der Königlich-Württembergischen Staatseisenbahnen gegen 70 Konkurrenten durchsetzt. Seinen Entwurf für den Stuttgarter Hauptbahnhof nennt er „Umbilicus Sueviae“, den „Nabel Schwabens“. Seine Auftraggeber verwerfen ihren Plan, einen Durchgangsbahnhof mit umfangreichen Tunneln zu bauen – denn 95 Prozent der Reisenden geben an, Stuttgart sei ihr Ziel. Deshalb gewinnen die Pläne für einen Kopfbahnhof, der über 100 Jahre später verschwinden soll.

In den 1920ern steht ein Kiosk vor dem später gebauten Nordflügel des Hauptbahnhofs. Drum herum parken die ersten Taxis im Halbkreis. Meist handelt es sich dabei um umgebaute Pferdedroschken. „Mit verhältnismäßig schwachem Motor fuhren die Wagen durch die Stadt“, schreibt der „Schwäbische Merkur“.

Der Bahnhof ist ein Ort des Abschieds – und des Protestes

Manche meinen, dies sei die gute alte Zeit gewesen. Noch ging kein Riss durch die Stadt. Keiner wusste etwas von Stuttgart 21. Der Bahnhof ist ein Ort des Abschieds und der Begrüßung, ein Ort der Hektik und der Sehnsucht. Längst ist er tief im Kessel auch zu einem Ort des Protestes geworden.

Auf den alten Postkarten sieht man den Bahnhofsturm mit und ohne Stern, man sieht, wie der Verkehr zunimmt, wie die Hügel immer mehr bebaut werden, wie der Bahnhof noch nicht „flügellahm“ war, wie die Straßenbahn oberirdisch fuhr – auf begrünten Schienen. Für die einen war die große Halle des Stuttgarter Hauptbahnhofs „das Tor zur Welt“, für andere ein Stück Heimat. Mit einer „Kathedrale“ vergleicht Rudi Maier im Facebook-Forum unseres Stuttgart-Albums das Innere des 100 Jahre alten Bonatz-Baus. Als „beeindruckend und majestätisch“ beschreibt Gisela Salzer-Bothe den vertrauten Ort, der nun jahrelang für ein neues Hotel und neue Geschäfte umgebaut wird. Sie erinnert sich „an den Blumenladen oben nach der Treppe, wo man Willkommensblumen kaufte“, und hat den „Rußgeschmack“, wenn sie mit ihrem Opa im Bahnhof Besuch abholte, noch auf der Zunge.

„Wieder verliert die Stadt ein Stück Geschichte“

Kirsten Rautenberg, Kommentatorin unseres Geschichtsprojekts, bedauert den Umbau eines Kulturdenkmals. „Wieder verliert die Stadt ein Stück Geschichte“, kritisiert sie und fragt: „Müssen wir eine fünfte Einkaufsmall in der City bekommen?“ Rainer Müller wird sentimental, wenn er die alten Fotos von der Bahnhofshalle sieht, und blickt zurück: „Sonntags, ab 22 Uhr, Wittwer-Kiosk oben in der Kopfbahnsteighalle. Druckfrisch der neue grüne ,Sportbericht‘ mit brandaktuellen Fotos und der Spielanalyse der schreibenden Sportjournalisten-Legende Hans Blickensdörfer. Ein unbedingtes Muss für jeden VfB-Fan damals!“

Heinz Peter schreibt: „Da ,meine‘ Straßenbahn nur bis 23.30 Uhr fuhr, konnte ich etwas länger in einer Wirtschaft feiern und um 2.30 Uhr mit dem ersten Zug nach Zuffenhausen fahren, Zugang nachts nur über den Nordeingang. Die Bahnhofshalle war fast menschenleer. Vom Bahnhof Zuffenhausen aus war noch ein halbstündiger Fußmarsch angesagt.“

Bis 1973 musste man eine Bahnsteigkarte lösen

Harald Frank erinnert sich im Internetportal unseres Stuttgart-Albums: „Der Hauptbahnhof gehört für mich zu den Kindheitserinnerungen. Da meine Eltern kein Auto besaßen, reisten wir per Bahn in den Urlaub, zu Verwandten und Freunden. Die Fahrt zur Oma nach Bayern war immer ein großes Erlebnis. Mit der Straßenbahn von Stuttgart-Nord zum Hauptbahnhof, durch die Schalterhalle und über die Treppen zu den Bahnsteigen. Kofferkulis gab es ebenso wenig wie Rollkoffer. Dafür standen Gepäckträger bereit, die das Gepäck zum Zug brachten. Bis 1973 gab es im Hauptbahnhof noch Bahnsteigsperren, das heißt, man konnte nur mit einer Fahrkarte oder einer Bahnsteigkarte auf den Bahnsteig. Dazu gab es ein kleines Häuschen, in dem ein Mitarbeiter die Karten kontrollierte.“

Gabriella Smith schreibt: „Habe viele Kindheitserinnerungen daran, als wir mit dem Zug ,in die Stadt‘ fuhren, von Schorndorf aus. Habe auch die Glanzzeiten erlebt, als die Klett-Passage gebaut, die Königstraße im Zuge der Gartenschau verschönert wurde, man noch auf der Freitreppe sitzen und ein Eis von Mövenpick genießen konnte.“

Der Bahnhof ist ein Ort des Abschieds, der Sehnsucht und der Wiedersehensfreude. Auch wenn bald alles anders ist, wird man Freude spüren, sobald historische Bahnhofsbilder Erinnerungen und Heimatgefühle zurückrufen. Umso unverständlicher ist, dass nicht die Bahn den 100. Geburtstag offiziell feiert, sondern eine private Initiative.

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Wo der Bahnhofsgeburtstag gefeiert wird

Am Donnerstag, 20. Oktober, beginnt um 18 Uhr im Rathaus eine Veranstaltung mit Vorträgen, Bildern und Filmen zur Geschichte der Eisenbahn und des Bahnhofs in Stuttgart. Der Abend wird wie auch die Sonderfahrten am Wochenende von einem privaten Komitee organisiert.

 Am Wochenende Samstag und Sonntag, 22. und 23. Oktober, beginnen und enden Sonderfahrten mit historischen Zügen am Hauptbahnhof. Sie führen nach Ludwigsburg, Esslingen oder Vaihingen. Fahrkarten gibt es im Internet bei den Ulmer Eisenbahnfreunden, https://www.uef-dampf.de/, und in der Modellausstellung „Miniaturwelten“, Arnulf-Klett-Platz 1–3, gegenüber dem Bonatz-Bau.

Das Bahnhofsgebäude ist wegen des Umbaus derzeit gesperrt. Einblicke ins Baugeschehen gibt es bei Sonderführungen am Jubiläumswochenende, die vom Bahnprojektverein Stuttgart–Ulm angeboten werden. Die Führungen beginnen am Infoturm Stuttgart bei Gleis 16. Karten können auf der Internetseite https://www.its-projekt.de/ gebucht werden.