Die Invasion der Trabis kam für Stuttgart, fern der Grenze, überraschend. Im Rathaus reichte nach dem Mauerfall das Begrüßungsgeld für DDR-Bürger nicht. 30 Jahre nach der Wende blicken wir auf ereignisreiche Tage in unserer Stadt zurück.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Am 9. November 1989 hat der VfB Stuttgart das einzige Mal in seiner Vereinsgeschichte im DFB-Pokal gegen den FC Bayern München gewonnen. Der Mauerfall am selben Tag hat dem VfB die Show gestohlen. Zwei Tage später lag in Stuttgart was in der Luft. Der unverwechselbare Trabi-Duft aus verbranntem Öl-Benzin-Gemisch zog durch die Stadt. Nie zuvor waren so viele Zweitaktmotoren in die Autostadt Stuttgart hineingerattert. Der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel wurde am 11. November 1989 kalt erwischt. Weder er noch seine Mitarbeiter hatten für den Andrang aus dem Osten Vorkehrungen getroffen. Die Stadt wurde von den Ereignissen überrollt.

 

„Keiner konnte das ahnen“, sagte der frühere Erste Bürgermeister Rolf Thieringer später, „wir sind keine grenznahe Stadt.“ Doch Hunderte von DDR-Bürgern wählten Stuttgart aus, um ihren Hunderter abzuholen, das sogenannte Begrüßungsgeld, das die Bundesrepublik einreisenden DDR-Bürger gegen Vorlage eines Passes gewährte. Von 1970 an gab es zunächst für jeden aus dem Osten 30 D-Mark. 1988 wurde der Betrag auf 100 D-Mark erhöht und auf eine einmalige jährliche Inanspruchnahme beschränkt. Die Auszahlung in den Kommunen war ursprünglich auf die geringeren Besucherzahlen ausgerichtet. An jenem zweiten Samstag des November 1989 aber bildeten sich im Stuttgarter Rathaus lange Schlangen.

Der Trabi-Fahrer sprach von seinem „ersten Freigang“

Die glücklichen Gesichter der Wartenden verrieten nichts von den Strapazen einer langen Nachtfahrt im Trabi. „Es ist unbeschreiblich, wie freundlich wir empfangen worden sind“, schwärmte ein Sachsen bei seinem ersten „Freigang“, wie er ihn nannte. Es sollte ein Ausflug bleiben. Am Montag wollte er zur Arbeit daheim im Osten sein.

Fast wären die vielen DDR-Bürger vergeblich ins Rathaus gekommen. Denn am Wochenende waren normalerweise die Kassen für das Begrüßungsgeld geschlossen, das die Stadt zwar auszahlte, für das der Bund aber aufkam. Ein Mitarbeiter des Hauptamts wollten an diesem Samstag, dem 11. November, gegen 9 Uhr im Rathaus kurz etwas erledigen – da war das Foyer bereits voll mit DDR-Bürgern. Er verständigte sofort Bürgermeister Thieringer, für den eine aufregende Suche nach Bargeld begann. An die Stadtkasse kommt selbst ein Beigeordneter nicht heran. Der Tresor öffnet sich nur, wenn zwei Mitarbeiter der Kämmerei gleichzeitig ihre Schlüssel bedienen. Rasch telefonierte der CDU-Politiker Hilfe herbei.

In der Stadtkasse reichte das Geld nicht – Breuninger half aus

Etwa 800 DDR-Bürger warteten auf jeweils 100 D-Mark – doch in der Stadtkasse befanden sich keine 80 000 Mark. Der Bürgermeister bat um Nachbarschaftshilfe. Das Kaufhaus Breuninger war flüssiger und lieh der Stadt die Hunderter. Die Gäste aus dem Osten durften sich die Wartezeit mit Kaffee und Brezeln verkürzen. Denn der Gesamtelternbeirat, der an diesem Vormittag im Großen Sitzungssaal des Rathauses tagte, verzichtete solidarisch auf sein Vesper. Gegen 12 Uhr öffnete sich endlich der Tresor.

Das CDU-Fraktionszimmer im Erdgeschoss wurde zum Schalterraum. Nach einer halben Stunde war auch der Stempel da, der in jeden DDR-Ausweis kam, um Missbrauch zu verhindern. Im Radio meldeten die Nachrichten, dass Stuttgart Begrüßungsgeld auszahlt. So eilten Trabi-Fahrer von umliegenden Gemeinden herbei, wo die Rathäuser nicht so schnell reagiert hatten.

Das Wort der Stunde lautete: Wahnsinn!

Ein 22-jähriger Student aus Eisenach kaufte sich von seinem ersten West-Hunni eine Platte von Udo Lindenberg. Dass er nach Stuttgart kam, hatte einen guten Grund: Hier lebte seine Freundin, die er zweieinhalb Jahre zuvor beim Urlaub in Ungarn kennengelernt hatte. Die Freundin war schon 25-mal bei ihm in Eisenach gewesen. Das Wort der Stunde lautete: Wahnsinn!

Bereits zwei Wochen vor dem Fall der Mauer hatten das Ehepaar Heinze und sein sechs Monate alter Sohn aus Zittau nach einer abenteuerlichen Flucht über die CSSR, Ungarn und Österreich in einem ockerfarbenen Trabant Stuttgart erreicht. Wichtige Papiere der Familie – Urkunden und Zeugnisse – waren im Boden des Autos eingeschweißt, da sie Angst davor hatte, DDR-Grenzpolizisten könnten die Fluchtabsicht entdecken. Den Trabi vom Baujahr 1977 hatten die Heinzes von der Großmutter übernommen und frisch lackiert.

Das Haus der Geschichte in Stuttgart hat diesen Trabi bereits 1989 von der Familie gekauft. Hat sich die Flucht für Steffen Heinze gelohnt, obwohl doch nur zwei Wochen danach die Grenzen offen waren? Die Antwort des Ingenieurs lautete bei seinem Besuch im Museum: „Wenn es nicht die vielen gegeben hätte, die geflohen sind – wer weiß, wie das ausgegangen wäre?“

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