Wo sich das Kunstmuseum befindet, trafen sich bis 2002 Sprayer und Skater im Tunnel. Mit der spektakulären Graffiti-Galerie im Hauptbahnhof schließt sich der Kreis. Wir blicken zurück auf den „Wild Style“ des Kleinen Schlossplatzes.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Selbst wer auf keinen Zug muss, sollte den Stuttgarter Hauptbahnhof nicht verpassen: In der leer geräumten Halle ist die „Secret Walls Gallery“ ein Magnet. Über 70 Graffiti-Künstlerinnen und -Künstler stellen bis Ende Oktober großflächig aus und arbeiten bis Ende August auch noch live daran. Der Kreis schließt sich: Am selben Ort, wo heute das Kunstmuseum steht, das  zu den Mitveranstaltern der temporären Ausstellung im Bonatzbau zählt, befand sich in den 1990ern bis 2003 die „Hall of Fame“. In den ausgedienten Tunnelröhren einer als Verkehrsknoten geplanten Betonburg trafen sich Sprayer und Skater.

 

Im Internetforum unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album beschreibt Dennis Jung, was damals dort los war: „Es herrschte ein einmaliger Geruch aus Lack, Urin und Autoabgasen. Denn unter dem Kleinen Schlossplatz war der ,Hall-of-Fame’-Tunnel mit dem Planie-Tunnel verbunden, der nach wie vor in Betrieb ist. Der Ort hatte eine sehr unwirkliche Atmosphäre, die gerade Sprayer aber lieben.“ Nur selten hätten sich „normale Bürger“ in die Graffiti-Röhre verirrt. Der Spitznamen des Tunnels lautete „Gaskammer“. Die jungen Leute gaben ihrem Treff einen No-go-Namen. Ums Provozieren ging es im als bieder verspotteten Stuttgart.

Man hätte das Kronprinzenpalais wieder aufbauen können

Er ist einer der emotionalsten Orte von Stuttgart: Seit Kriegsende hat sich der Kleine Schlossplatz so oft von Grund auf verändert wie kein anderer Platz im Kessel. Um jeden Schritt des Wandels ist heftig gestritten worden – wie wir dies nur von Stuttgart 21 kennen. Mit dem Kronprinzenpalais aus Monarchiezeiten fing es an, das an dieser Stelle nach den Bombenangriffen als Ruine stehen geblieben war. Man hätte es wieder aufbauen können wie das Neue Schloss auf der anderen Seite des Schlossplatzes. 1956 hatten sich Stadt und Land aber auf die autogerechte Tunnellösung geeinigt. OB Arnulf Klett wollte den Grundriss der City neu ordnen. Bahnhofserbauer Paul Bonatz zählte zu den Verlierern. Vergeblich hatte er dafür plädiert, „den wichtigen Teil des Stadtgedächtnisses zu erhalten“.

Der Kleine Schlossplatz geriet zum Pflegefall

Erst 1966 begannen die Bauarbeiten für den Planiedurchbruch und für den Kleinen Schlossplatz. Auf den Betondeckel über Straßen und Gleisen kamen Läden für Poster, Halsketten und Lederröcke. Bei der Eröffnung im Dezember 1968 brach – flower-power-bewegt – ein Jubel der Fachwelt aus. Doch die Mini-City, die jung und trendig sein wollte, geriet rasch zum Pflegefall. Der Kleine Schlossplatz stand für Drogen, Schmutz und Tristesse.

Eine neue Situation entstand, als die Königstraße 1978 zur Fußgängerzone wurde. Die Fahrspuren mit ihren beiden schwarzen Eingangslöchern blieb unter dem Betondeckel verwaist, der damit seinen Sinn verloren hatte. Denn der Verkehr war um einen Stock tiefergelegt. Über die nutzlos gewordenen Röhren freute sich die Graffiti-Szene.

Die Freitreppe war ein Glücksfall für die Stadt

Zur Leichtathletik-WM 1993 kam  Walter Belz, einem der drei Architekten des umstrittenen Betonplateaus, die Idee, eine 30 Meter breite Freitreppe von der Königstraße hoch zum Kleinen Schlossplatz zu bauen. Dies war ein Glücksfall für die Stadt. Dazu fand die Subkultur eine Nische. Wo gekündigte Läden leer standen, wo viele einen „Schandfleck“ sahen, setzte der drohende Abriss Kreativität und Fantasie ein.

Den größten Erfolg hatte die 1996 eröffnete Bar Pauls Boutique, die sich im ehemaligen Kartenhäusle niederließ und Tausende anlockte - auf einer Betonplatte, die als „Kalte Platte“ in die Stadtgeschichte eingegangen ist.  2002 allerdings kamen erneut die Abrissbagger, damit das in der Stadt lang ersehnte Kunstmuseum gebaut werden konnte. Der Glaswürfel ist im Jahr 2005 eröffnet worden. Der in Esslingen geborene Künstler Tobias Rehberger, der im nächsten Jahr im Kunstmuseum ausstellt, erinnert sich, wie er sich als Jugendlicher mit seinen Kumpels auf dem Kleinen Schlossplatz getroffen hat, der damals noch ganz anders aussah. Treffpunkt war die Hajek-Skulptur.

Pauls Boutique, die wohl größte Caipirinha-Ladestation außerhalb von Lateinamerika, die Freitreppe wenige Schritte weiter sowie die „Hall of Fame“ der Graffiti-Künstler sind drei von vielen Beweisen dafür, dass sich Stuttgart seinem provinziellen Image, das damals weit in die Republik hinein verbreitet war, mit Power und Kreativität widersetzt hat.

Ausstellung „Graffiti im Kessel“ im Stadtpalais

Der Wunsch von Architekt Walter Belz, die aus Fertigteilen bestehende Freitreppe behutsam abzutragen, um Teile davon womöglich andernorts zu verwenden, hat sich nicht erfüllt. Dies sei zu teuer, hieß es im Rathaus. Wie schade! Teile der Freitreppe, des Kartenhäusles und der Graffiti-Wände in den Röhren hätten ins Stuttgart-Museum im Stadtpalais gehört! Denn am Kleinen Schlossplatz ist Stuttgart in den 1990ern leichter, sympathischer und großstädtischer geworden.

Das Stadtpalais eröffnet am 26. September die Ausstellung „Graffiti im Kessel“, die Hotspots der Stuttgarter Streetart aus den vergangenen Jahrzehnten dokumentiert. Dazu gehören neben der „Hall of Fame“ vom Kleinen Schlossplatz Wände der Bahnhofseinfahrt. Ein  Ziel hat die Writer seit den 1990ern vereint: Bringt Farbe in die Stadt!

Keiner hätte sich vorstellen können, dass die Bahn, die Sprayer verfolgte und  stets bemüht war, Graffiti an Zügen und Häusern zu entfernen, eines Tages den Bonatzbau der Szene für eine temporäre Ausnahme-Galerie überlassen wurde. Stuttgarts „Wilde Style“ geht weiter.