Durch die enge Calwer Straße quälten sich Autos, die Häuser waren Sanierungsfälle. In den 1970ern war das Quartier am Ende. Seitdem ging’s auf und ab. Nun ist rund um die Calwer Passage Großes geplant – auch Festwirtin Sonja Merz kommt. Die Historie eines Viertels.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - In der Calwer Straße stehen Häuser aus mehreren Jahrhunderten in schöner Eintracht nebeneinander. Zeugnisse aus Mittelalter und Gründerzeit kann man bewundern, aber auch aus Barock und Biedermeier. Nun gesellt sich moderne Architektur dazu, die in die Zukunft weisen will. Die Piëch Holding will mit begrünten Fassaden einen optischen und ökologischen Volltreffer landen, auf dass es dank der neu geschaffenen Vegetation dem Stadtklima künftig besser geht.

 

An diesem historischen Ort will man „Pionierarbeit“ leisten und zum neuen Vorzeigeviertel werden. Kulturdenkmäler stehen vereint mit neuartigen Hinguckern, die in Bäumen gipfeln, die auf dem Dach thronen. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem an den Fassaden soll dafür sorgen, dass es der Pflanzenauswahl aus Immergrün, Winterjasmin, Strauch-Efeu, Clematis gut geht.

Bis 1956 fuhr die Straßenbahn durch die Calwer Straße

Ihren Namen verdankt die Calwer Straße dem Calwer Tor, das 1836 abgerissen wurde. Bereits im 15. Jahrhundert ist dieses Viertel als „obere und reiche Vorstadt“ angelegt worden. Bis 1956 fuhr hier noch die Straßenbahn durch. Einige Giebelhäuser hatten Krieg und Nachkriegswirrnisse überstanden. In den 1970ern war die Straße runtergekommen. Unten quälten sich die Autos durch, oben waren die Häuser baufällig – so sehr, dass die Polizei, wie im Zeitungsarchiv nachzulesen ist, eine ausländische Familie zu deren eigener Sicherheit anwies, noch am selben Tag auszuziehen.

In der Calwer Straße hat der Denkmalschutz gewonnen

Es gab Pläne, alles abzureißen. Doch die Calwer Straße wurde zu einer Initialzündung des Denkmalschutzes in Stuttgart: Dem Denkmalschützer Georg Friedrich Kempter, den beiden Tageszeitungen und der Bürgerschaft gelang es in einer gemeinsamen Aktion, die Gebäude zu retten. Heute befindet sich hier eine Fußgängerzone mit historischem Häuserbestand, die sich zu einem kulinarischen Treff mit südländischem Flair entwickelt hat.

Einen prominenten Zugang gibt’s an der Calwer Straße 33. Sonja Merz, bekannt als Festwirtin und Betreiberin des Schlossgarten-Biergartens, will mit ihrer Tochter Katharina Renz in einem Rundbau Ende April das Restaurant The Avocado Show eröffnen. Das Franchise-Konzept stammt aus Amsterdam. Die beiden glauben fest daran, dass es bald aufwärts geht’s mit dem Viertel. Der Neubau der Calwer Passage, der über eine Länge von 133 Metern verfügt, steht kurz vor der Vollendung.

Einen Stichtag zur Eröffnung gibt es nicht

Bauherr und Eigentümer Ferdinand Piëch will mit dem begrünten Gebäude für ein städtebauliches Highlight sorgen, das neue Menschenströme anlockt. Der Entwurf stammt vom Büro Ingenhoven, die technische Umsetzung von Professor Werner Sobek. Die üppige Fassadenvegetation dient, so steht’s auf der Homepage „als natürlicher Kältespeicher, reduziert den innerstädtischen Wärmeeffekt, spendet saubere, feuchte Luft und fördert die Biodiversität“. Die Calwer Passage, die unter Denkmalschutz steht, ist integriert im Neubau. Einen Stichtag zur Eröffnung gibt es nicht. Im Frühjahr und im Sommer soll nach und nach das Leben einziehen - mit 22 Läden und Bars.

Als „Glanzpunkt für Stuttgart“ hat OB Manfred Rommel 1978 die Calwer Passage, von den Architekten Kammerer und Belz geschaffen, zur Eröffnung gerühmt. Die glasüberwölbte und filigrane Ladenpassage, die auf einem edlen Marmorboden fußt, sollte ein bissle große Welt nach Stuttgart bringen. Aus Kübeln goss es, als im August 1978 die Bürgerschaft die nagelneue Calwer Passage sowie die sanierte und damit gerettete Calwer Straße mit einem Eröffnungsfest gefeiert hat. Angesichts des starken Sommerregens wurden die Reden in die damalige Fußgängerunterführung (in den heutigen S-Bahnhof Stadtmitte) verlegt. Glücklich waren trotzdem alle.

Alternative Läden eroberten die frühere Luxus-Adresse

OB Manfred Rommel sah Stuttgart glänzen, und Lothar Späth lobte als neuer Ministerpräsident „die formidable Privatinitiative“ – Bauherr war die Allgemeine Rentenanstalt. Stuttgarts Glasgalerie nach Luxus-Vorbildern in Mailand, London und Paris sei „eine winzige Insel in einem trostlosen Stadtbrei“, schrieb ein Architekturkritiker. Einst war das Viertel als reiche Vorstadt angelegt worden. Jetzt kehrte Wohlstand zurück.

Unter dem Glasdach der Ladenzeile ging es in ihrer über 40-jähriger Geschichte auf und ab. Die Geschäftsleute der feinen Flaniermeile fühlten sich von der City zunehmend abgehängt und fanden, die Mieten seien dafür zu hoch. Wechsel, Leerstände und nachlassende Kundenströme wirkten sich negativ auf die Attraktivität des Gebäudeensembles aus. Im Jahr 2013 wurde die Calwer Passage unter Denkmalschutz gestellt. Der Investor Piëch hat sie von der Württembergische Lebensversicherung, der letzten Eigentümerin, gekauft, um große Pläne realisieren zu können. Im November 2014 öffnete er die frühere Luxus-Adresse zunächst für alternative Läden nach dem Pop-up-Prinzip. Das Ende war abzusehen. Es sollten dreieinhalb Jahre werden, bis das beliebte, zunächst nur für das Weihnachtsgeschäft geplante Fluxus aufhören musste. In der etwas anderen Einkaufsmall hatte sich ein munteres Nachtleben abgespielt.

Vier barocke Häuser stehen an der Calwer Straße unter Denkmalschutz, unter anderem das Palais Gültlingen, in dem sich die Brauerei Paulaner niedergelassen hat. Die Calwer Straße ist eine der ersten Straßen in der Innenstadt, die für Fußgänger saniert worden ist. Nun will sie stärker ins Zentrum des Stadtlebens rücken.

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