Fulminant wird die Tradition nach langer Coronapause in Stuttgart gefeiert: Zum 175. Cannstatter Volksfest gesellen sich auf dem Wasen das Landwirtschaftliche Hauptfest sowie das Historische Volksfest auf dem Schlossplatz. Wir blicken auf die Anfänge zurück.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Wer vor der Coronapause in den Bierzelten gesehen hat, wie die Kellner mit voll beladenen Tellern und Krügen umherwuseln, mochte kaum glauben, dass der Ursprung des Cannstatter Volksfestes auf dem Wasen in einer Hungersnot liegt. Ein gigantischer Vulkanausbruch in Indonesien hat schon vor über 200 Jahren für eine Klimakatastrophe gesorgt.

 

In Deutschland regnete es nur noch. Getreide verschimmelte, Kartoffeln verfaulten, nichts wollte reifen. Ernteausfälle, Armut, 1816 war das Jahr ohne Sommer – all dies brachte König Wilhelm I. dazu, die Landwirtschaft zu reformieren und ein Volksfest zu feiern. Am 28. September 1818, einen Tag nach Wilhelms 36. Geburtstag, ist die Fruchtsäule auf dem Wasen errichtet worden – am noch nicht aufgestauten Neckar. Man blickte von diesem Ort auf die königliche Villa Bellevue an der Wilhelma.

Das Fest mit Pferderennen beschränkte sich auf einen Tag. Es sollen 30 000 Besucherinnen und Besucher gekommen sein – also weit mehr Menschen, als in Stuttgart und Cannstatt zu dieser Zeit gelebt haben.

Früher war es beliebt, Grußkarten vom Volksfest zu verschicken

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sind Stuttgart und Bad Cannstatt immer größer geworden – und das Volksfest verlängerte sich auf immer mehr Tage. Seit Jahrzehnten sammelt Wolfgang Müller Postkarten vergangener Zeiten. Bei ihm ist der Anteil der Wasenmotive sehr groß, weil es früher beliebt war, Grüße vom Volksfest zu versenden – so, wie man heute über Facebook seine Fotos verbreitet, was mitunter sogar live geschieht. Die Freunde und Verwandten sollten Anteil nehmen, wenn man selbst eine gute Zeit hat.

Gingen zunächst gezeichnete Karten in den Postumlauf, so waren es später Fotografien. Die alten Karten beweisen: Man machte sich schön für das Volksfest, dessen Ursprung das Landwirtschaftliche Hauptfest war, lief im Sonntagsstaat an der Königsloge vorbei. Der Wasen war schon immer mehr als eine Zecherei. Er ist auch ein Jahrmarkt, ein Ort, wo man sich zeigt und Menschen trifft.

Auf dem Wasen hat sich viel verändert, aber die Fruchtsäule blieb

Mit Schirm, flatternden Hutbändern und sogar einem Hund rollt eine vergnügte Besuchergruppe des Volksfestes im grünen Wagen hoch auf der gelben Schiene. Die Postkarte mit den kräftigen Farben ist 1902 abgestempelt worden – zu einer Zeit, als man die vordere Bildseite beschrieben hat, weil die Rückseite allein der Adresse und der Briefmarke vorbehalten war. „Warum lässt Du denn gar nichts von Dir hören?“, steht unter der lustigen Wasenszene. Die Absender geben sich wie folgt zu erkennen: „Gruss von Eltern.“ Adressiert ist die Karte an „Fräulein Hedwig Kauderer“, die in „Owen u. Teck“ lebte, wie auf der Rückseite unter dem Poststempel zu lesen ist. Das Töchterlein versäumt was, das wollten die besorgten Eltern mit der Versendung der Volksfestzeichnung wohl sagen, wenn es nicht mal wieder in der Heimat vorbeischaut, wo gerade ausgelassen am Neckar gefeiert wird.

Seit dem ersten Volksfest 1818 ist vieles anders geworden – eines aber blieb: Die Fruchtsäule, einst vom württembergischen Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret entworfen, erinnert daran, dass der Wasen seinen Ursprung als Erntedank hat. „Am Siebene an dr Fruchtsäule“. Schon seit Generationen ist klar, wo man sich trifft. Im Internetforum unseres Stuttgart-Albums erinnert sich Gisela Salzer-Bothe: „Jedes Jahr hat man das Wahrzeichen des Festes bestaunt und sich gefreut, wie die Säule geschmückt ist. Auf jeden Fall war immer Spitzkraut dabei. Und wenn das Volksfest begann, zu meiner Zeit ist noch an zehn Tagen gefeiert worden, war es die fünfte Jahreszeit für uns.“ Nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem Beginn der ersten deutschen Republik, ist die Fruchtsäule als monarchistisches Überbleibsel vom Wasen verbannt worden. Seit 1935 steht das Wahrzeichen wieder auf seinem angestammten Platz

Wie Lederhose und Dirndl auf den Wasen kamen

Hähnchen gab es in den Anfangsjahren nicht. Es drehte sich der Ochs am Spieß. Daran erinnert Michael Schmücker, der neue Wirt des Historischen Volksfestes auf dem Schlossplatz, und serviert den Ochs – neben vegetarischen Gerichten wie die Kartoffel, die schon früher eine wichtige Rolle spielte. Die Ursprünge des Festes, das aus einer Krise erwachsen ist, erinnern den Wirt ein wenig an die heutige Zeit. Die Pandemie hat für Entbehrungen gesorgt, für Krankheit, für Tod, bei vielen für wirtschaftliche Not. Jetzt ist die Freude groß, dass man wieder feiert.  

Hans-Peter Grandl, Festwirt auf dem Wasen, der einst auf dem Oktoberfest tätig war, trug mit Verlegerin Karin Endress maßgeblich dazu bei, dass die Lederhose und das Dirndl seit Jahren das Volksfest prägen.  Der  Kritik, die Schwaben würden bayerische Traditionen übernehmen, entgegnet er: „Längst sind Trachten internationalisiert.“ Es gebe ja auch eine Württemberger Tracht. Die einheitliche Kleidung sorge für ein Gemeinschaftsgefühl.

Ausgefallen ist das Volksfest mehrfach – auch wegen Cholera

„Bei uns lag der Rekord beim Tragen von 14 Krügen gleichzeitig“, erinnert sich Wirtin Conny Weitmann, die bei ihrem Vater, dem Wasen-Urgestein Walter Weitmann, gearbeitet hat. Damals trug nur das Personal Dirndl. Jetzt wird das 175. Volksfest, das vor 204 Jahren gegründet wurde, mit viel Tracht gefeiert. Ausgefallen ist es mehrfach wegen Überschwemmungen, Cholera und zweimal wegen Corona. Die spannende Frage wird sein: Wird das Volksfest 2022 mit einem Besucherandrang an vergangene Zeiten anknüpfen? Oder hält die Angst vor Ansteckung die Leute daheim?